Ateliergespräch - Manfred Holtfrerich

Bereits 1962 wurde der Niederländer herman de vries als Mitbegründer der Gruppe ‚nul‘ im Amsterdamer Stedelijk Museum ausgestellt. Er ist heute in zahlreichen Sammlungen namhafter internationaler Museen vertreten. Im Jahr 2015 gestaltete der heute 85-jährige de Vries unter dem Titel to be all ways to be den niederländischen Pavillon auf der 56. Biennale in Venedig. Parallel wurden seine Werke auf den ZERO Ausstellungen im Berliner Gropius-Bau und im New Yorker Guggenheim Museum gezeigt. Gerade ist sein bibliophiles Künstlerbuch the earth museum catalogue erschienen, der die Austreichungen von circa 8000 Erdproben zeigt, die der Künstler weltweit in knapp 50 Jahren zusammentrug. Nach seiner ersten Museumsschau in Hamburg im ersten Halbjahr diesen Jahres hatten Rene S. Spiegelberger und Dr. Anke Brack die Gelegenheit, mit ihm in seinem Atelier über sein einzigartiges Werk zu sprechen.

Bei der Betrachtung deiner Bilder oder Skulpturen vermutet man sich häufig  im Zwischenraum von Bild und Objekt. Du brichst hier mit tradierten Sehgewohnheiten. Joachim Kreibohm beschrieb dieses Phänomen so: „Mal überwiegt das Bildhafte der Objekte, mal das Objekthafte der Bilder. So will der dreidimensionale Gegenstand als Bild betrachtet werden, die zweidimensionale Fläche verlangt dreidimensionale Aufmerksamkeit.“ Kann man also sagen, dass deine Arbeit in der Betrachtung die Wahrnehmung der zweiten und dritten Dimension verkehrt?

Nein, aber es sind immer auch Gegenstände, Dinge, mit denen ich zu tun habe.

Auch Bilder sind zuerst einmal flache, begrenzte Objekte, als die ich sie betrachte. Die Wandobjekte sind Körper mit Oberflächen, beide Teile als strukturelle Elemente verlangen Beachtung. Es gibt keine „unbearbeiteten Stellen“ in der Kunst. Alle Teile sind Teile eines Ganzen und insofern wichtig.

Deine Werke erfreuen sich häufig eines beschreibenden Titels, wie beispielsweise ‚Chinesische Kanne’, ‚Porträt’ (Blume) oder ‚Bilder mit rotem Rand’. Geht es dir hierbei vornehmlich um die Sachlichkeit in der Beschreibung?

Ja, es geht um die genaue Beschreibung dessen, was wesentlich ist für die Arbeit. Die Titel sollen nicht auf Emotionen hindeuten, diese entstehen beim Betrachter, wenn er die Arbeiten als Kunstwerke wahrnimmt.

Hüttenarbeiter, Mühlenbilder, Kannen-Objekte oder auch Blätter sind völlig unterschiedliche Werkzyklen mit nicht vergleichbaren Techniken. Was eint diese konzeptionell?

Die Herangehensweise, mein Zugriff. Mich mit dem zu befassen, was da ist. Auf die Dinge so zu reagieren, wie sie mir begegnen und wozu sie mich anregen entsprechend ihres Zustands und Ausdrucks, des materiellen wie des inhaltlichen. Bei der chinesischen Teekanne war es z.B. die vollkommene, sehr alte Form, die ich nicht verändert habe, sondern nur soweit vergrößert, dass sie ihren Gebrauchswert verliert und ihren skulpturalen Charakter betont. Bei den Hüttenarbeitern, Titel „Figurenbilder“, war es das „Sich zeigen“ der Figuren im Bild als Bild, also der Zusammenhang von Motiv, Abbild und Bild, der mich beschäftigt hat.

Neben dieser Objekthaftigkeit in deinen Bildern meine ich nicht zuletzt durch deine Farbwahl eine Verwandtschaft zu deinem ehemaligen Professor Franz Erhard Walther zu erkennen. Orange, Rot, Gelb. Wie nachhaltig hat Walther dein Werk insbesondere beim Objektverständnis beeinflusst?

In meinem Interesse an dem Strukturellen von Kunst, bei meiner Arbeit mit Dingen und dem künstlerischen Zugriff darauf hat er mich immer bestärkt. Ich habe mich von ihm immer verstanden gefühlt. Das war das Wichtigste.

Deiner aktuell erschienen Werkmonographie Blätter stellst du dieses Adorno-Zitat voran „Natur hat ihre Schönheit daran, dass sie mehr zu sagen scheint, als sie ist. Dieses Mehr seiner Kontingenz zu entreißen, seines Scheins mächtig zu werden, als Schein ihn selbst zu bestimmen, als unwirklich auch zu negieren, das ist die Idee von Kunst.“ Wenn wir Adorno hierbei folgen, sind dann die Natur und die Kunst in ihrer jeweils höchsten Form gleichzusetzen?

Kunst vermittelt den Ausdruck des Stimmigen, des Absoluten, des objektiv Richtigen. Natur ist „An sich“, also Materie/Gegebenheit und richtig aus sich heraus. Natur ist, Kunst hat richtig zu sein, aber als ein Geistiges. Adorno antwortet darauf mit „ästhetische Objektivität ist die Widerspiegelung des Ansichseins der Natur“.

Viele sehen deine Herbstblätter als eine Art Markenkern. Mit absoluter Perfektion gibst du die Natur wieder, sprichst ihr nichts ab, aber dichtest bei der Wiedergabe auf dem Papier auch nichts dazu. Wie findet hierbei dein künstlerischer Ausdruck statt?

Ich finde, das machen sie nur scheinbar. Wie ich schon gesagt habe, reagiere ich auf das Gegenüber, seiner Eigenart und seines Ausdrucks entsprechend, also auf Form, Farbe, Ausdruck, Inhalt, Material. Die Dinge zeigen sich nur manchmal nicht so eindeutig wie die Blätter, sind komplexer und verlangen einen differenzierteren Zugriff.

„Wenn etwas nicht wertgeschätzt werden kann, kann es kein Kunstwerk sein“ mutmaßt der Philosoph George Dickie, worauf der Kunstkritiker Ted Cohen wie folgt aufsattelte und folgende Objekte als immun gegen ästhetische Wertschätzung einstufte: „Gewöhnliche Reißnägel, billige weiße Briefumschläge, die Plastikgabeln aus einem Schnellimbiss sowie ganz besonders Urinale“. Ist diese Position heutzutage obsolet?

Ein Kunstwerk hat seine Wertschätzung in seinem Erkennen als Kunstwerk. Auch Briefumschläge, Plastikgabeln können Kunstwerke oder wesentliche Teile von Kunstwerken sein. Siehe die Werke von Andreas Slominski. Es kommt auf den Zusammenhang des Werkseins an und dem daraus resultierendem Geist. Kunstwerke existieren durch ihre Erscheinung. Als Erscheinungsdinge sind Kunstwerke schön und von Wert, nicht vom Inhalt her, der kann alles Mögliche sein.

Ist Kunst für dich klassifizierbar? Gib es gute und schlechte Kunst oder nur Kunst oder keine Kunst und, wenn es gute Kunst in Abgrenzung zu schlechter Kunst gäbe, wie sähe dann Premium-Kunst aus?

Ein Kunstwerk muss als Kunstwerk erkannt werden, sonst existiert es nicht für sein Gegenüber. Obwohl es ein Ding ist, existiert es nur als etwas Geistiges. Wenn sein Geist, das Nicht-Dingliche, nicht erkannt wird, heißt es nicht, dass es kein Kunstwerk ist. Es braucht dazu die Bewahrenden, die, die es als wahr erkennen. Jedes Kunstwerk sagt, „verwechsle mich nicht“, ist also einzig. Es gibt starke und weniger starke Kunstwerke. „Je wesentlicher das Werk sich öffnet, um so leuchtender wird die Einzigkeit dessen, dass das Werk als dieses Werk ist und nicht vielmehr nicht ist“, um mit Heidegger zu sprechen.

Rene S. Spiegelberger und Frau Dr. Anke Brack führten das Gespräch am 21. Juli 2016 im Atelier des Künstlers. Herman de Vries wird in Deutschland unter anderem vertreten von den Galerien Geiger, Konstanz (galerie-geiger.de) und Holger Pries, Hamburg (holgerpriess.com). Informationen zu Herman de Vries und dem Earth Museum Catalogue erhalten Sie auf hermandevries.org.