Ateliergespräch Sean Scully

Sie haben die Malerei einmal als unerschöpflich bezeichnet. Wodurch drückt sich das aus?
Malerei ist etwas, das niemals sterben wird. Man kann nie zweimal dasselbe Bild malen, weil es keine mechanisierte Kunstform ist. Es ist nicht wie Drucken oder Fotografie, wo man einfach reproduzieren kann. Die Linien in meinen Arbeiten – sie sind nicht gerade. Sie sind menschlich. Sie zittern. Sie atmen. Das ist es, was ich will. Jedes Mal, wenn ich ein Bild male – selbst wenn ich versuche, dieselbe Zeichnung oder Struktur zu wiederholen – wird es anders. Ich habe das gemacht, wissen Sie. Ich habe dieselbe Komposition sechs Mal gemalt. Gleiche Linien, gleiche Segmente. Aber jedes ist völlig anders geworden. Weil die Hand im Moment des Entstehens anders ist, die Farbe variiert ein wenig. Damit habe ich den Beweis erbracht – Malerei ist unerschöpflich. Und es macht Spaß. Das ist das andere. Die Leute denken, Künstler leiden ständig, aber ich liebe es zu malen. Ich gehe jeden Tag in mein Atelier, nicht weil ich muss, sondern weil ich will. Ich male und male und male. Deshalb sehen sie sich alle irgendwie ähnlich – weil ich verdammt viel male.
Ihr Arbeitsprozess wirkt sehr körperlich, fast archaisch. Mögen Sie uns etwas über Ihr Verhältnis zum Material berichten?
Ich arbeite mit dem, was ich habe. Ich male auf allem. Auf Karton, Metall, sogar auf der Rückseite alter Bilder. Für mich ist das alles gleich. Meine Farbtöpfe sehen aus wie Mist. Ich reinige nichts. Es ist mir egal, ob es schmutzig ist – ich arbeite einfach damit weiter. Das ist für mich der Punkt. Ich brauche keine makellosen Materialien, um etwas Kraftvolles zu schaffen. Ich bin nicht Künstler geworden, um Pinsel zu waschen. Alle meine Pinsel liegen in Terpentin. Ich lasse sie einfach dort. Sie werden nicht hart, sie sind einsatzbereit. So schone ich die Umwelt, und ich schaffe mir keine Aufgaben, die ich nicht will. Wenn Dreck in die Farbe kommt – wie ein kleines Stück vom Pinsel – ist mir das egal. Das kann man nicht designen. Das kann man nicht formalisieren. Das ist das Schöne daran.
Sie bekennen sich klar zur Abstraktion. Warum ist sie Ihnen so wichtig?
Abstrakte Malerei ist eines der letzten freien Territorien. Sie widersetzt sich jeder Autorität. Sie lässt sich nicht einfangen. Sie lässt sich nicht bearbeiten. Wenn man einen Teil entfernt, funktioniert sie immer noch. Es gibt nichts, was man zensieren kann. Deshalb war Abstraktion bis vor 40 Jahren in China verboten – weil der Staat sie nicht kontrollieren konnte. Man kann sie nicht in eine Schublade stecken, man kann nicht sagen, was sie bedeutet. Sie ist eine Bedrohung für Ideologien. Und genau das braucht die Welt – Widerstand. Malerei ist eine Form von Widerstand. Nicht nur politisch. Sie widersetzt sich der Leere. Sie widersetzt sich dem Gefühl der Abwesenheit. Wir ertrinken in Dogmen. Jeder hat eine Antwort. Jeder sagt dir, wie du denken sollst. Nicht so abstrakte Malerei – sie ist einfach. Sie spricht, ohne zu predigen. Das ist ihre Kraft.
Würden Sie etwa so weit gehen, zu sagen, dass etwas Politisches in Ihrer Kunst steckt?

Ich mache keine Propaganda, nein. Das mache ich nicht. Kunst, die der Politik dient, versklavt sich selbst. Ich arbeite an menschlichen Verbindungen. Meine Arbeit handelt nicht von dem, was uns trennt, sondern von dem was uns eint. Sie ist vielleicht spirituell. Aber ohne Dogma. Zwar finde ich, dass Spiritualität überbeansprucht ist, aber dennoch steckt etwas davon in meiner Arbeit. Das reicht über das Hier und Jetzt ebenso hinaus, wie über Ideologien.
Es geht Ihnen also um sehr existentielle Dinge, auch um humanistische Aspekte. Was suchen Sie selbst durch Ihre Malerei?
Ich begann mit der Suche nach dem, was ich für die menschliche Seele hielt. Das versuche ich zu malen. Was für mich zählt, ist nicht Politik oder Religion, sondern etwas, das für mich noch wesentlicher ist, ewig. Etwas, das jenseits von Kultur und Zeitgeist liegt. Meine Arbeit geht um Vereinigung, nicht um Differenzierung. Es geht um das, was wir alle gemeinsam haben. Wissen Sie, ich hatte zehn Retrospektiven in China. Und ich denke, das sagt etwas aus. Ein Typ, geboren in Irland, aufgewachsen in den Slums von London, zeigt wieder und wieder in China. Diese Verbindung – sie ist nicht politisch. Sie ist tiefer. Sie ist menschlich.

Welche Rolle spielt Ihre irische Herkunft für Sie und wo fühlen Sie sich zu Hause?
Ich komme aus einem komischen kleinen Land. Im Grunde waren wir die Plantage für die Engländer. Sie haben alle unsere Wälder abgeholzt und das Holz für ihre Schiffe mitgenommen. Deshalb gibt es in Irland keine Bäume. Etwas im Iren ist sehr überheblich. Mich eingeschlossen. Ich trage Irland in mir. Auch wenn ich nie lange dort gelebt habe, es ist in meinem Rhythmus, in meiner Art zu sprechen, in meiner Aufsässigkeit. Irisch zu sein heißt, man nimmt die offizielle Version von nichts zu ernst. Wir Iren – wir improvisieren. Das steckt auch in der Arbeit. Sie ist nicht geplant. Sie geschieht. In Irland ist alles ein bisschen krumm. Es ist nicht ordentlich. Es ist gelebt.
Welche Künstler haben Sie am meisten inspiriert?
Mein größter Einfluss ist Paul Klee. Man sieht es. Meine Gemälde sind wie riesige Klees. Es gibt Unvorhersehbarkeit in meiner Vorhersehbarkeit. Aber auch die deutschen Expressionisten haben mich total überwältigt und natürlich Cézanne. Ich bin auch ein Baumeister – wie er. Ein Bilderbaumeister. Seine Werke hatten Strenge. Sie wollten nicht hübsch sein. So empfinde ich meine Arbeiten auch. Was ich mache, ist keine Dekoration. Ich sehe mich selbst als Gegengift zum Schlangenbiss Andy Warhols. Seine Arbeit ist nur Oberfläche. Mir geht es um Tiefe. Die Leute fragen mich immer: Was ist deine Lieblingsfarbe? Ich habe keine. Meine Frau sagt, meine Farben sähen aus wie Gewürzberge auf den Märkten in Marokko oder Indien. Sie wirken wie gebacken. Das sind sie auch. Sie sind nicht dekorativ. Sie stammen aus etwas Ursprünglicherem. Also nein, meine Bilder wollen nicht populär sein. Sie haben Strenge. Man muss in der richtigen Stimmung für sie sein – wie bei Cézanne. Aber sie bleiben bei dir. Und sie entschuldigen sich nicht dafür, was sie sind.

Sie dürfen also unperfekt sein?
Ich glaube an das Unperfekte. Dort wohnt die Schönheit. Wenn man etwas anschaut, das leicht falsch, leicht schief ist – dann atmet es. Es lebt. Wenn es zu perfekt, zu glatt ist – dann ist es tot. Dann weiß man, es wurde manipuliert. Das will ich nicht. Das Einzige, was ich in der Malerei nicht leiden kann, ist Gleichgültigkeit. Wenn ein Bild gleichgültig ist, will ich es nicht in meiner Nähe. Ich will, dass es fühlt. Dass es sich kümmert. Selbst wenn es unbeholfen oder seltsam ist – es muss von Bedeutung sein.
Sie sprechen oft und sehr herzlich über Deutschland. Was verbindet Sie mit meiner Heimat?
Ich passe absolut nach Deutschland. Dort gibt es weniger von dieser Mentalität, um jeden Preis gewinnen zu wollen, die man oft in England oder Amerika findet. In der Kunst geht es auch nicht nur um den Markt. In Deutschland lieben mich die Studierenden, und ich liebe sie. Deutschland ist für mich ein Kraftort. Es ist intellektuell und daraus gewinne ich Energie. Von Nietzsche. Aus der Kunstgeschichte. Es ist keine Mode. Es ist etwas Tieferes. Und ich vertraue Deutschland mein Kind an. Das ist existenziell.
Ihre BBC-Dokumentation Unstoppable wurde von über sechs Millionen Menschen gesehen. Welchen Einfluss hat Ihre weiterhin zunehmende Bekanntheit auch über die Kunstwelt hinaus für Sie?
Ich kann darauf verzichten, in die Intrigen der Londoner Kunstwelt verwickelt zu sein. In Amerika sagen sie: ‚He‘s an asshole‘ In Deutschland sagen sie: ‚We love him’. Es ist mir egal, was die Leute denken. ‚I’m an arrogant son of a bitch’ – und in Deutschland ist das kein Problem.
Wird es deswegen zu Ihrem runden Geburtstag auch in Deutschland eine weitere große Retrospektive geben?
Andere Leute interessieren sich für Geburtstage, ich nicht. Ich spiele nicht brav. Und es ist mir egal. Was zählt, ist, an Orten auszustellen, die mich bewegen. Hamburg zum Beispiel – ich wollte dort schon immer ausstellen. Ich liebe diese Stadt. Das Meer. Den Hafen. Dort steckt Geschichte.
Das klingt, als seien Sie immer mit offenem Visier unterwegs. Mit allen Risiken und Nebenwirkun- gen. Bleibt dabei auch Platz für Humor?
Regenschirme sind was für Feiglinge. Und genauso halte ich es mit jeder Form von Absicherung – ich verzichte bewusst darauf. Sowohl im Leben als auch in der Kunst. Wenn es regnet, werde ich nass. Wenn ich scheitere, dann scheitere ich. Das gehört dazu. Ich halte nichts davon, Schicksalsschläge abzufedern. Humor ist wichtig. Ich bin witzig, aber auch brutal. Die Leute wissen oft nicht, ob sie lachen oder wegrennen sollen. Und das ist okay. Ich bin nicht hier, um es den Leuten bequem zu machen. Ich bin hier, um echt zu sein.
Lieber Sean Scully, vielen Dank für das Gespräch und diese tiefen Einblicke.
Das Gespräch führten Sean Scully und Rene Spiegelberger im Mai 2025 im Londoner Atelier des Künstlers.
Zur Unikat XIX mit Sean Scully erscheint eine Edition des Künstlers. Zur Edition


