Ateliergespräch Walter Schels - 'Der Moment zählt'

Was hat Sie in den 60er Jahren nach New York gebracht?
Ich ging nach New York um Fotograf zu werden. Bis dahin hatte ich mein Geld als Schaufensterdekorateur verdient, in großen Kaufhäusern in Barcelona, Kanada und in Genf. Ich hatte genug vom Dekorieren. Aber schon damals hatte ich eine Leica und fotografieren war mein liebstes Hobby, warum sollte ich nicht Fotograf werden? Als Dekorateur hatte ich viel mit Mode zu tun. Aus den Zeitschriften kannte ich die Namen der großen Fotografen. Alle waren in New York. Von Kanada aus war ich immer dorthin gependelt und kannte die Stadt. Es war für mich der beste Ort, um den Beruf zu wechseln.
Wie haben Sie damals die Stadt erlebt?
Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre war New York noch kein Sehnsuchtsort. Es war eine Stadt, aus der man eher geflüchtet ist, vor Diskriminierung, Luftverschmutzung, Kriminalität und so weiter. Zugleich waren die Sonntage im Central Park ein Ereignis. Es war die Zeit der Hippies, Avedon fotografierte die Beatles, Andy Warhol machte verrückte Sachen in seiner factory. In der Zeit entstand auch der Slogan ‚I love NY‘ mit dem Herz in der Mitte. Für mich war New York die romantischste Stadt der Welt. Und ich fand es immer sehr inspirierend, mir dort die Museen und Galerien anzusehen.
Hatten Sie damals Kontakte zur New Yorker Kunstszene?
Nein. Ich habe in New York bei Modefotografen assistiert und mir ein Portfolio aufgebaut. Damals wollte ich noch Modefotograf werden. Ich experimentierte aber schon mit Doppelbelichtungen und Übermalungen. Gezeigt habe ich das nie jemandem. Wenn ich mir heute meine alten, überarbeiteten Handabzüge aus der Zeit anschaue, gefallen sie mir sehr gut.
Wie kamen Sie dazu, selbst einen künstlerischen Weg einzuschlagen?
Das kam erst viel später, nachdem ich wieder in Deutschland lebte, als Fotograf mit Aufträgen für Magazine, redaktionelle Fotografie und Werbung. Mein Portfolio aus New York war ein Türöffner gewesen. Dort hatte ich die große Beuys-Ausstellung im Guggenheim und die Warhol-Ausstellung im Whitney-Museum gesehen, die zeitgleich liefen. Seitdem hatte ich den Wunsch, beide zu porträtieren. Diese Möglichkeit ergab sich anlässlich einer gemeinsamen Ausstellung der beiden in einer Galerie in München.
Wie war Ihre Begegnung mit Beuys?
Beuys hatte ich mit seiner Honigpumpe bei der documenta in Kassel erlebt. Dort erklärte er seine Arbeit dem Publikum. Auch in der Münchner Galerie diskutierte er mit Besuchern – ich war mittendrin, habe Reportagebilder gemacht, mit der Kleinbildkamera. Er schlug mir einen separaten Porträttermin in Düsseldorf vor, der leider nicht zustande kam. Aber auch die Bilder aus München haben eine starke Präsenz.
.. und Warhol?
Warhol habe ich mit einer alten Holzkamera aus der Zeit um 1900 porträtiert, mit Luftdruckauslöser. Es war eine angenehme Begegnung, Warhol war unkompliziert Seine Porträts habe ich übermalt, und ihm später in New York einige dieser Bilder in die Fabrik gebracht. Er war begeistert. Sein erster Kommentar war: ‚You’ve got to sell them‘. Er rief gleich bei seiner Galerie an, Sonnabend, um dort für mich einen Termin zu machen. Er sagte: ‘You are a painter. I thought you are a photographer.’
Wie verbinden sich für Sie Fotografie und Malerei?
Ich habe schon als Kind viel und gern gemalt. Eigentlich wollte ich sogar Maler werden. Ausgelöst durch meine Porträts von Beuys und Warhol begann ich mit Übermalungen, Schwammentwicklungen, transformierten Unikaten. Ich sehe Fotografie und Malerei als verwandt. Heute male ich mit Chemie auf Fotopapier in der Dunkelkammer.
Ihre Porträts, auch von Tieren, strahlen große Würde aus. Wie gelingt das?
Ich habe eine gute Beziehung zu Tieren, ich bin mit ihnen aufgewachsen. Tiere spüren, ob man sie mag – Hunde riechen das. Für mich steht der Blickkontakt im Zentrum eines guten Porträts, bei Menschen wie bei Tieren. Tieren kann man aber nicht sagen, dass sie in die Kamera schauen sollen. Da ist ein gelungenes Porträt auch Glückssache. In der Tierfotografie geht es um den richtigen Moment.
Gibt es Unterschiede zwischen Porträts von Menschen und Tieren?
Ein Tier fragt sich nicht: Wie sehe ich aus. Tiere können sich nicht verstellen. Das ist beim Menschen anders. Der sorgt sich immer um die Wirkung. In Porträtsitzungen versuche ich, auch beim Menschen diesen tierischen Moment der Selbstvergessenheit zu erreichen. Das mimikfreie Originalgesicht ist mein Ideal in der Porträtfotografie.
Sie beschäftigen sich auch mit Astrologie. Warum?
Für mich ist die Astrologie ein Schlüssel zur Persönlichkeit. Wenn ich einen Menschen porträtiere, beschäftigte ich mich wenn möglich mit dessen Horoskop. Mit vielen Prominenten – Musikern, Künstlern, sogar mit dem Dalai Lama – hatte ich auf diese Weise sehr interessante Gespräche. Von den Tageshoroskopen aus der Zeitung halte ich aber gar nichts. Astrologie ist komplex. Wie die Kunst.
Warum arbeiten Sie fast immer analog, in Schwarz-Weiß?
Weil ich Farbe nicht mag. Sie lenkt vom Kern des Bildes ab. Außerdem muss ich meine Schwarz-Weiß-Filme nicht ins Labor geben sondern kann sie selbst entwickeln. Ich arbeite noch immer in der Dunkelkammer und mache meine eigenen Prints. In der analogen Welt ist jeder Handabzug ein Unikat.
Was hat Sie dazu bewogen, für die Freie Akademie eine Schimpansen-Edition zu machen?
Ich habe mehrmals Schimpansen fotografiert. Sie sind dem Menschen sehr nah, echte Persönlichkeiten. Die drei Porträts, die wir für die Edition ausgesucht haben, zeigen, wie verschieden sie als Individuen sind.
Was bedeutet Ihnen die Freie Akademie der Künste?
Im Jahr 2002 hatte ich dort eine für mich wichtige Ausstellung mit Porträts von Menschen und Tieren. F.C. Gundlach hatte sich damals dafür eingesetzt, ich selbst war noch gar kein Mitglied. Das kam erst später. Ich erinnere mich an viele gute Gespräche und Begegnungen in der Akademie, auch wenn ich in den Akademie-Sitzungen nicht so viel beizutragen hatte. Für die Stadt und die Kunst ist die Akademie eine wichtige Institution.
Im kommenden Jahr steht Ihr 90. Geburtstag an. Was ist geplant?
Es wird eine Retrospektive bei C/O Berlin geben. Das ist sehr viel Arbeit! Gerade habe ich die Arbeit an einem Langzeitprojekt abgeschlossen. Über mehr als zehn Jahre habe ich, gemeinsam mit meiner Frau Beate Lakotta, trans Jugendliche begleitet, mit der Fotokamera und mit Interviews. Vor Kurzem haben wir das Projekt als Jugendbuch veröffentlicht, ein dazugehöriger Film ist in Arbeit und es gibt Überlegungen für Ausstellungen mit dem Thema. Dazu kommen neue Arbeiten in der Dunkelkammer. Und ein Archiv, das weiter in Ordnung gebracht werden muss. Es gibt viel zu tun!
Was bedeutet Ihnen die Kunst?
Die Vielfalt bleibt. Jedes Blümchen ist ein Wunder. Auch wenn alles schon einmal da war – jedes Kunstwerk, das berührt, ist neu. Der Moment zählt. Der Augenblick. „Verweile doch, du bist so schön“ – das ist Kunst.

