Unikat VII - Martin Spengler

Strukturen und Tiefe

Betrachten wir die Werke von Martin Spengler aus der Ferne, so erkennen wir die Architektur einer Kathedrale, Ansichten einer Stadt oder einer Menschenmenge. Nähern wir uns den Bildern auf wenige Zentimeter, so scheinen die Motive sich aufzulösen und unser Blick verliert sich in den Umrissen und Formen einer zerklüfteten, weißen Oberfläche.
Vor diesen Arbeiten erleben wir ein faszinierendes Wechselspiel zwischen Licht und Schatten. Wahrscheinlich ist es dieses Wechselspiel aus Realität und Illusion, hell und dunkel, Dynamik und Ruhe, welches die besondere Anziehung und Spannung ausmacht, die uns beim Betrachten der Werke des Münchners so unwillkürlich überkommen.

Der 1974 geborene Martin Spengler widmet sich in seinen Arbeiten einem selten genutzten Medium, dem Relief. Der stete Wechsel zwischen zwei- und dreidimensionaler Wahrnehmung übt einen besonderen Reiz auf den Betrachter aus. Insbesondere in der Malerei der Renaissance wurde vielfach
mittels perspektivischer Darstellung eine dreidimensionale Räumlichkeit
vorgetäuscht. In der tatsächlichen Plastizität eines Reliefs kommt diese
Wirkung jedoch mit einer besonderen Qualität zur Geltung.

Der Künstler, der seine Werke dennoch als ,Bilder’ bezeichnet, schnitzt seine Formen Schicht für Schicht mit präziser Technik in Wellpappe, einem Material das wir als Verpackung kennen und das Spengler zufällig für sich entdeckte.
In mehreren Lagen, meist raumgreifend übereinander montiert, arbeitet er seine Motive in einem langwierigen Prozess in den Werkstoff hinein, um so seine malerischen und skulpturalen Ideen miteinander zu verbinden.

Die außergewöhnliche Wirkung seiner Arbeiten erzielt Spengler durch eine abschließende Veredelung der Oberflächen mit einer kalkhaltigen weißen Farbe und Graphit. Während das Graphit die Präzision der Formen und Umrisse erneut betont, verbindet das Weiß die zerklüftete Oberfläche wieder zu einem Ganzen. Denn der Blick auf eine weiße Fläche, so der Künstler, gibt uns wesentlich mehr Freiheiten, in ein Bild einzutauchen.

Mit knapp 30 Jahren, nach einer Ausbildung zum Zahntechniker, nimmt Spengler sein Kunststudium in Bremen und Wien mit Abschluss in München auf. Bereits nach einjährigem Studium findet er zu seinen teils großformatigen Reliefs aus Wellpappe. In umfassenden Ausstellungen in Remscheid und Wuppertal zeigte er bereits skulpturale Weiterführungen seiner Formensprache, wie Sollbruchstelle und Lagerfeuer aus den frühen 2010er Jahren.

Seine Motive entnimmt Martin Spengler der realen Welt, etwa dem Foto einer Häuserfront oder eines Fahnenmeeres.Um ein wirklichkeitsgetreues Abbild geht es ihm jedoch nicht. Vielmehr interessieren ihn die Strukturen dahinter, zum Beispiel die einer architektonischen Funktion oder einer sozialen Begegnung. Es geht ihm darum zu erkennen und zu reflektieren, was sich hinter der Äußerlichkeit verbirgt. In diesem Sinne möchte der Künstler seine Bilder als eine erkenntnistheoretische Leistung verstanden wissen.

Widmen wir uns einzelnen Werken Spenglers, so bekommen wir einen Begriff davon, was der Künstler damit meint. In seiner Serie Kathedrale, die er bereits im Jahr 2007 beginnt, verweist er in unzähligen Variationen auf architektonische Details des Kölner Doms. Präzise zeigen seine reliefhaften Arbeiten Strukturen der gotischen Baukunst, zum Beispiel den Spitzbogen als deren zentrales Element. Man erkennt, dass es Spengler nicht um ein wirklichkeitsgetreues Abbild geht, sondern um seine Faszination für die architektonischen Details und Strukturen, die repräsentativ für eine
Gesamtheit des Bauwerks stehen.
Beim Betrachten eines seiner jüngeren Werke, der La Ola-Welle wiederum begreifen wir seine Gedanken über die Strukturen sozialer Begebenheiten: Eine Masse an Fans im Fußballstadium reißt gleichzeitig die Arme empor und wir empfinden eine ungeheure Spannung, hervorgerufen durch den Wechsel von Bewegung und Starre, Licht und Schatten, Abstraktion und Konkretem.
Aber so gegenständlich seine Konstruktionen aus der Ferne scheinen, so wenig lässt sich ein Zentrum ausmachen. Gleichförmig ziehen die Strukturen sich über die Fläche und laden uns ein, diese in unserer Vorstellung fortzusetzen. Das gleichmäßig scheinende Weiß auf den Oberflächen der Bilder, ihre Konturen, tiefen Formen und Strukturen sind von so ungeheurer Präsenz, dass sie uns umgekehrt herausfordern zu erahnen, worauf eigentlich der überwältigende Eindruck beruht, den wir beim Anblick von Kathedralen oder Menschenmassen in der wirklichen Welt so oft erleben. Und wieder fasziniert uns die Doppelschichtigkeit und ästhetische Eleganz von Martin Spenglers Werken.

Silke Thomas, Galerie Thomas, München