Ateliergespräch - Christian Awe

Christian Awe im Atelier mit Rene SpiegelbergerLieber Christian Awe, Sie sagen selber von sich, dass Sie als Kind weder intensiven Kontakt mit Kunst noch größeres Interesse daran gehabt haben, die Graffiti-Szene Ihnen jedoch diese Brücke gebaut habe. Gab es ein Schlüsselerlebnis auf diesem Weg?

Zurückblickend muss man erst mal sagen, dass ich ja in der ehemaligen DDR aufgewachsen bin. 1990 begannen die
48 verschiedenen Jugendorganisationen und Sportvereine sich einfach aufzulösen. Dadurch fiel plötzlich eine Menge Organisation weg und so fingen wir an, auf den Straßen Berlins Sport zu treiben. Hinzu kam, dass ein gewisser ‚Graffiti-Tourismus‘ aus West-Berlin beziehungsweise Westdeutschland nach Ost-Berlin einsetzte, weil hier die S-Bahn beheimatet war. Die S-Bahn fuhr damals auch für West-Berlin, aber es war eben ein Ost-Berliner Unternehmen. Alle Werkstätten, die ganzen Zugdepots waren im Ostteil der Stadt und das Hauptdepot war zufällig genau dort, wo ich aufgewachsen bin. Dadurch bin ich früh mit sehr vielen älteren Graffiti-Sprühern, zum Teil aus ganz Europa, in Kontakt gekommen. Für mich war das alles beeindruckend und so kam ich über den Sport zum Graffiti. Mich interessierte einfach diese ganze Jugendbewegung: Es gab auch schon zu DDR-Zeiten den Film Beat Street, der unglaublich interessant war und diese Elemente von B-Boy, also Breakdancen, Rappen und eben Graffiti vereinte. Das war für mich eine sehr, sehr kreative Zeit und dieser kreative Aspekt daran war für mich schon immer die Herausforderung. Mir ging es nicht um den Kick, etwas Illegales zu tun, sondern tatsächlich um die Auseinandersetzung mit dem Medium und auch um das Miteinander.

Christian AweIhre Kunst haben Sie einmal als urban-expressionistische Malerei beschrieben. Expressionistisch ist klar. Aber ist das Urbane auch malerisch vorhanden oder eher als Teil Ihrer Biographie zu verstehen?

Das Urbane kommt natürlich aus meiner Vergangenheit und ist irgendwie noch drin. Die Bilder sind expressiv, aber doch sehr stadtnah. Man hat dieses Gefühl, als würde man durch die Berliner oder New Yorker Nachtclubs streifen: Diese vielen Menschen, die Überlagerungen, die verschiedenen Lebensgeschichten – all das zusammen bildet den kreativen Hub einer Großstadt. In dem Sinne zeigen auch meine Bilder vordergründig ein kreatives Chaos, es ist aber ein kreativ geordnetes Chaos. Die einzelnen Farbschichten haben eine festgelegte Ordnung. Es gibt einen klaren Rhythmus, es ist wie ein Tanz: mal wild, mal ruhig, mal ist es der Breakdance auf der Leinwand, beim nächsten Mal der erotische Tango und dann wieder Cha-Cha-Cha. Und die Farben sind natürlich auch kontraststark. Kontraste, wie sie eben auch Städte haben. Ich sehe mich als Maler, der durch die Stadt mit all ihren Geschichten beeinflusst ist.

Ich möchte auf die Technik Ihrer Arbeiten zu sprechen kommen. Sie bedienen sich bei Ihrer Arbeit sehr experimenteller Werkzeuge und Medien, verwenden Kollagen-Techniken, Murmeln, Sand, Wasser, Steine oder arbeiten auch klassisch mit Stencils. Vieles, was Sie Ihrer Leinwand geben, entreißen Sie ihr später wieder, um in fast archäologischer Manier in eine der unteren, Ihrer bis zu 15 Farbschichten vorzudringen. Wie häufig kann Sie ein eigenes Werk dabei noch überraschen?

Meine Malerei ist sehr stark aufs Experiment ausgelegt. Es gibt zwei Ansätze: Der eine Ansatz ist, dass ich von Anfang an eine Bildidee, ein Gefühl im Kopf habe. Ich agiere dann wie mein eigener Erfüllungsgehilfe und versuche, in einem festgelegten Rahmen das festzuhalten. Ich scheitere dabei oftmals aber auch und es entsteht etwas ganz anderes. Der andere Ansatz ist ein komplettes Loslassen, sich in einem fast rauschartigen Flow der Malerei hinzugeben und wirklich einfach zu experimentieren, zu gucken: Was kann man Neues finden, was gibt es für Techniken, was gibt es für chemische und physikalische Reaktionen? Wie funktioniert etwas mit Wasser, mit Eis, mit verschiedenen Aggregatzuständen. Wie reagieren Farben aufeinander? Was sind das für Mischungsverhältnisse? Und da ist es immer wieder interessant zu sehen, was man erforscht. An meiner Wasser-Serie habe ich zum Beispiel über zwei Jahre geforscht, bis es am Ende so herausgekommen ist, dass dieses Wasser fast wie eine Fotografie oder gar dreidimensional plastisch erscheint, aber doch gemalt und eben ist. Das ist eine große Entwicklungsarbeit.

Christian Awe - Berlin Lichtenberg HOWOGEWenn man wie Sie Kunst nicht als elitäres, sondern als ein partizipatives Thema betrachtet und darin eine Form der Kommunikation sieht, stellt sich mir die Frage, ob Sie, allein vor der Leinwand, manches Mal das Gefühl haben, ganz viel in die Welt hinauszurufen, ohne Antworten zu erhalten. Haben Sie das mal gefühlt?

Ja, es gibt natürlich Zeiten, wo man wochenlang allein im Atelier steht und das mit sich selber ausmacht, imaginäre Dialoge mit lebenden oder bereits verstorbenen Künstlern führt und da auch immer bestimmte Dinge weiterdenkt. Dann freut es einen umso mehr, wenn jemand kommt und man einen spannenden Dialog mit seinem Galeristen hat, mit einem Kunstgeschichtler oder einem Sammler, mit Menschen eben, die einen vielleicht schon über Jahre begleiten. Und wenn die Bilder dann in Ausstellungen präsentiert werden und sich da selber behaupten beziehungsweise behaupten müssen, dann sind sie natürlich auch ein bisschen dem Künstler entzogen und es gibt immer wieder neue Deutungshoheiten.

Abstrakten Expressionismus könnte man verkürzt auch als das Gegenteil des Konkreten beschreiben. Dennoch nutzen Sie Ihre Arbeiten als Botschafter vieler Fragestellungen, die Ihnen wichtig und alles andere als abstrakt sind. Sie thematisieren Migration oder Extremismus. Welche Antwort kann Kunst auf derart komplexe Themen überhaupt liefern?

Kunst und jegliche Art von Kultur sind der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält und voranbringt. Künstler sind Vorreiter, Künstler sind Querdenker und oftmals in den verschiedensten Gesellschaften Botschafter einer Idee, des Glaubens, des Fortschritts. Es geht immer irgendwie um ein gewisses Miteinander, aber Künstler sind einfach unabhängig und deswegen spannenderweise ganz oft auch Berater von vielen wichtigen Wirtschaftsmenschen und Politikern. Da gibt es interessante Freundschaften, die sich durch die Geschichte auch belegen lassen. Künstler haben oftmals einfach die Zeit, sich über Dinge Gedanken zu machen und müssen niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen, außer sich selbst. Und die Kunst kann, glaube ich, am Ende des Tages einfach begeistern und Augen für bestimmte Missstände öffnen.

Christian Awe - AdanzéNach Ihrer eigenen Aussage haben Sie noch so viele Ideen, Konzepte und Projekte im Kopf, dass Sie noch 100 Jahre bräuchten, diese umzusetzen. Flugzeuge, Hochhäuser oder Schiffe könnten Sie sich als Leinwand vorstellen. Gibt es einen besonderen Ort oder ein Projekt, das Sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen?

Eine gute Frage. Ich habe tatsächlich einfach zu wenig Zeit, um diese ganzen Ideen umzusetzen. Die Verbindung aus Malerei, Musik, Tanz, Bewegung – das im Raum irgendwie darzustellen, finde ich äußerst interessant. Dass man Malerei irgendwann so erfahrbar macht, dass sie wirklich einen starken körperlichen, psychologischen Effekt auf den Betrachter hat, das fände ich sehr, sehr reizvoll. Ob man das jetzt mit Tageslichtfeuerwerk macht, indem man in den Himmel farbkräftige Bilder malt, die durch Musik choreographiert sind, oder ob das die Bemalung von Schiffen oder der ISS im Weltraum ist, sei dahingestellt. Aber es geht immer um die Erweiterung der eigenen Mittel. Im Moment forsche ich an einer Art ‚Bilder-Skulpturen‘, wo immer etwas Neues kommt. Erlebniswelten zu kreieren, das ist glaube ich das, was mich interessiert. Und etwas bei Menschen zu hinterlassen, ihnen ein paar Rätsel mehr aufzugeben, sie irgendwie mit einem Wow-Effekt zu entlassen, so dass sie mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Fragezeichen im Kopf nach Hause gehen und inspiriert sind, vielleicht selbst Marathon zu laufen oder selbst zum Pinsel zu greifen. Hauptsache aktiv, das ist es, was mich interessiert.

Lieber Herr Awe, vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Rene S. Spiegelberger am 18. Februar 2016 in Christian Awes Atelier in Berlin. Christian Awe wird von den Galerien Fahnemann in Berlin (galerie-fahnemann.de) und Ludorff in Düsseldorf (ludorff.com) vertreten