Ateliergespräche - Christian Megert

1966 Atelier BernRS: Als kleiner Junge betraten Sie eine barocke Kapelle und erlebten das erste Mal für sich die Überschreitung einer Grenzlinie. Die Linie in eine andere Dimension. Was genau an dieser Kapelle zeigte Ihnen die neue Dimension?

CM: Dieses völlige Anderssein, wenn man aus der Natur in eine solche Kapelle eintritt, ist man einfach ja räumlich umgeben... es ist wie Science Fiction, wenn man mit einer Rakete auf einem fremden Planeten landet und plötzlich etwas ganz Fremdes da ist. Das überrascht im Kontrast zur Natur, aus der man in diesen Raum getreten ist.

RS: Wenn man Ihre persönliche Kunst betrachtet, Herr Megert, könnte man denken, dass das Barock eigentlich ein echter Antipode ist. Dennoch hat es eine Faszination auf Sie ausgestrahlt.

CM: Ja,  das ist bis heute so. Meine Konstruktionen mit Glas oder Spiegel kann man auch eine barocke Idee nennen. Es ist ja eine Suche nach dem „Wo geht’s weiter?“, „Wo endet es?“, wie der Weltraum eben. Ich arbeite nicht aus dekorativen Gründen mit dem Spiegel. Meine Konstruktionen sollen in eine neue Dimension weisen, wie ich das selbst gefordert habe in meinem Manifest. Das sind alles Komponenten des Spielerischen, des In-Frage-Stellens.

RS: Eigentlich wollten Sie Architekt werden. Die begleitende Maurerausbildung brachte Sie erstaunlicherweise in Berührung mit der Kunstszene. War die Künstlerlaufbahn also eher ein Zufallsergebnis oder wäre auch eine Architektenlaufbahn am Ende auf die Kunst hinausgelaufen?

CM: Ich habe diese Architektur-Idee nie aufgegeben. Es war mein ganz früher Erfolg nach meinen ersten Paris-Aufenthalten, dass ich mir eine Auszeit nahm. Es waren ja viele Freunde aus Bern da wie Daniel Spoerri, Dimitri der Clown und Harry Szeemann, der spätere Kurator der großen Ausstellungen.

RS: Mit der Kunst wurden Sie Architekt des Utopischen, wenn wir Ihre Spiegelräume im Kopf haben. Wieviel Utopie oder Mut zu neuem Denken finden Sie in der heutigen Welt noch?

CM: Damals gab es noch keine verspiegelten Fassaden, auch nicht in New York. Selbst die Konstruktionen mit Glas waren noch begrenzt, weil es ein anderes Material war als heute. Eigentlich sind es neue Materialien, obschon sie denselben Zweck haben. Und viele dieser Utopien oder dieser Gedanken, die wir hatten, das Durchbrechen nach dem Krieg, die Nachkriegszeit, etwas neu zu bauen, waren auch ein großer Antrieb.

RS: Ihr Verhältnis zu Ihrer Schweizer Heimat ist ein ambivalentes, und Sie machten daraus auch nie wirklich einen Hehl. Nun haben Sie mit Ihrer Werkreihe „Mein Blick auf die Schweiz“ ein eigenes Stilmittel in Ihrer Sprache gefunden. Auf mich wirkt dieses sehr geschlossen, fast homogen, und es funktioniert vor allem künstlerisch perfekt. Das müsste Sie doch eigentlich fast ein wenig beunruhigen, Herr Megert?

CM: Es beunruhigt mich nicht, das ist sicher auch eine Frage des Alters, wenn man sowas macht. Es hat wirklich Spaß gemacht und ich versuche, alle meine Gedanken zur Schweiz auch reinzubringen. Zürich ist ja die einzige Stadt in der Schweiz oder die Schweiz das einzige Land mit zwei großen Kunstbewegungen am Ende eines Krieges. Dada beim Ersten Weltkrieg und dann die Zürcher Konkreten im Zweiten Weltkrieg, das sind für mich die entscheidenden künstlerischen Leistungen, wenn man es so sagen darf, der Schweiz. Ich war gut befreundet mit Max Bill und Richard Lohse, und damit war schon die Richtung vorgegeben, wie man an die Schweiz herangeht. Ironisch mit „Zürich der Weltmeister“ oder das Schimpfwort „So jung und schon von Zürich“, die „Hauptstadt der Schweiz“ oder so. Diese ein bisschen größenwahnsinnigen Vorstellungen. Und gibt dann eben die Möglichkeit in der Zertrümmerung oder der Zerlegung der Schweizer Fahne. Natürlich ist schon die Fahne unglaublich abstrakt. Dann auch noch ihre Zerstörung und wieder neu Zusammensetzen unter dem Aspekt eben dieser ambivalenten Sicht auf die Schweiz. Das ist, vereinfacht, das Thema, der Ursprung meiner Idee dazu. Und es hat auch Spaß gemacht, das zu machen, doch es ist eine enorme Aufgabe für 45 Kombinationen aus dieser abstrakten Form heraus, die auch noch eine Aussage machen im konkreten Sinn.

RS: Wenn Sie Dada und die Schweizer Konkreten ansprechen und Ihre Freundschaft und Verbundenheit zu Max Bill, fühlen Sie sich dem auch künstlerisch verbunden?

CM: Ja, also ich sehe außer traditioneller Malerei und Bildhauerei aus der Schweiz inklusive der Abstrakten eigentlich keine großen künstlerischen Leistungen, ich sehe sie wie gesagt bei den Konkreten und bei der Verbindung durch Max Bill zum Bauhaus, das war schon mit eine entscheidende Haltung... in der Gegenhaltung waren ja die informellen Künstler, unsere Wortbilder waren ja Mitkämpfer wie Yves Klein oder Fontana. Wir wollten ja auch die Konkreten nicht, das waren ja unsere Väter. Max Bill hat ZERO unterstützt, aber wir waren gegen Max Bill. Nicht weil wir seine Arbeiten nicht mochten, wir waren andere in einer anderen Zeit und es musste etwas anderes kommen.

RS: Natürlich, aber trotzdem glaube ich, dass es selbstverständlich ist, dass Sie sich in dieser Zeit von einem Max Bill und dem Gedanken des Bauhauses lösen mussten, dennoch bin ich der Überzeugung, die Konsequenz des Deklinierens dieses Themas, das Sie hier für diese Serie gewählt haben, hätte Ihm doch eigentlich gefallen müssen, oder?

CM: Ja, das glaube ich schon. Max Bill hat mich wirklich unterstützt. Er hat aus seiner Erfahrung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm gesehen, dass man einen anderen Weg gehen muss. Er selber hat es ja auch bewiesen, mit seinen Ausstellungen „Kinetische Kunst“ und so, das war die Unterstützung einer ganzen Kunstbewegung auch, und sehr vieles vorweg genommen, der ganzen Kunstgeschichte.

RS: Zwei Fragen, die direkt daran anknüpfen: Wie dem Maler die Ölfarbe ist Ihr Werkzeug der Spiegel. Wie hält diese Faszination noch nach über sechs Jahrzehnten für Sie?

CM: Weil es dort keine Lösung gibt, das ist wie der Weltraum. Also die Fragestellung bleibt im Spiegel. Was will der Spiegel? Wo geht der hin? Bei meiner ersten Ausstellung mit Spiegel und Glas in Kopenhagen, bekam jeder Besucher einen kleinen Spiegel und sollte dann in der Spiegelwand mit seinem Spiegel suchen. Spiegel gegen Spiegel.

RS: Vielleicht noch mal zurück zu ZERO. Was genau war ZERO für Sie und wie aktuell ist die Bewegung oder ihr Kerngedanke noch heute?

CM: ZERO ist der Punkt Null. Nichts mehr, von jetzt an kommt etwas ganz anderes als das, was man so traditionelle Kunst nennt. Kunst ist für alle da, wir sind Teil einer Gesellschaft und was wir machen, hat der Gesellschaft zu dienen. Darum der Verzicht der Italiener, die am weitesten gingen, und auch nicht mehr signieren. Das hat nichts zu tun mit der Verehrung einer Person oder eines Namens. Es muss Qualität sein und soll jedem gehören. Und dann auch die gewaltigeEntwicklung, dass Kunst plötzlich plural nebeneinanderstehenkann. Die Surrealisten neben den Konkreten, jeder macht und überall findet man plötzlich Qualität und hat keine Hemmungen mehr. Zumindest in der deutschsprachigen Welt oder in Amerika. In Frankreich ist das immer noch sehr stark eingegrenzt, da ist immer noch Bild und Plastik. Und schon das Relief dazwischen ist schon nichts [lacht]. Aber das war ja überall so und ist ja aufgebrochen worden. Wenn man heute Kunstausstellungen sieht, ist ja auch alles möglich. Der große Boom begann so 1964/65, doch mit dem Eintritt der Amerikaner und mit dem Kunstmanagement im großen Stil in Europa war es vorbei mit ZERO. Das gab immer noch wieder jemanden, der sich darauf bezog und dann auch wieder so an einem Wechselpunkt stand. Aber das war eigentlich vorbei. Jetzt vor sechs, sieben Jahren ist ZERO wiederentdeckt worden mit der Ausstellung in Düsseldorf. Das ist eine Wiederentdeckung, und die ZERO-Foundation, die darauf mit Sitz in Düsseldorf gegründet wurde, war ursprünglich eine amerikanische Idee. Aber warum soll ZERO nach Amerika gehören und nicht nach Düsseldorf, wo sie ursprünglich einen Mittelpunkt hatte. Daher hat jetzt die Stadt Düsseldorf seit drei Jahren die ZERO-Foundation. Als ich selber nach Düsseldorf kam aus auch wirtschaftlich-verschiedenen Gründen, auch mein Clinch mit der Schweiz und den Behörden, drehte sich alles nur um Beuys, Und das war kein ZERO-Movement, das war eigentlich das Gegenteil, das war Zurückgehen in die Phantasien. Phantastische Kunst, Surrealismus, sehr stark germanisch geprägt auch [schmunzelt], teutonisch und so. Ja, okay. Da war eben kein ZERO mehr. Aber jetzt, in diesem Pluralismus mit den neuen Techniken, wenn die erste Generation, die am Computer aufgewachsen [ist], eintritt in die Kunstszene, ist ein Point Zero.

CHRISTIAN MEGERT, Exhibition view: Mirror environment, documenta 4 Kassel, 1968, 600x500x400cm, wood, mirror, mirror foil

RS: Ich möchte gleich gerne noch mal mit einer Rückfrage auf Beuys zurückkommen, aber vorher noch mal die Frage: Habe ich Sie richtig verstanden, dass die Heterogenität, der Pluralismus und das Nebeneinander so vieler Kunstgattungen auch durch ZERO eigentlich vorangetrieben und überhaupt erst ermöglicht wurde?

CM: Das denke ich schon. Europa im Wiederaufbau, da muss man auch verstehen, dass es dauerte, bevor Kunst überhaupt eine – im großen Rahmen – Existenzbasis bot.

RS: Sie haben ja die 2006er Düsseldorfer ZERO-Ausstellung angesprochen. Es folgte der Gropius-Bau und es folgte MoMa New York und viele weitere große Ausstellungen, und das waren sicherlich die Punkte, die die Renaissance von ZERO massiv vorangetragen haben. Wo sehen Sie diesen Motor für diese Renaissance?

CM: Weil man’s jetzt begreift und weil jetzt wieder ein Moment ist, der einem ZERO-Moment entspricht.

RS: Was genau meinen Sie damit?

CM: Von Baselitz bis Yves Klein hat sich alles erfüllt in der Malerei. Jeder malt alles. Gerhard Richter, ein Megastar, malt, was er da einfach grad sieht und es spielt keine Rolle mehr, ob das konstruktivistisch ist, oder muss das gut sein? Oder, kann man da ein Loch reinmachen oder kann man’s halb verbrennen oder einen Spiegel reinsetzen? Alles ist Gerhard Richter und das war früher undenkbar aus der akademischen Sicht auf Malerei. Das waren immer geschlossene Werke, selbst bei Mondrian führte man ja seinen Werdegang vom Bäumchen-Malen bis zu seinen strengen Konstruktionen als Werdegang, nicht als Gleichzeitig-alles-machen.

RS: Und das bedeutet für Sie, dass heute alles möglich ist und dieser Impetus, den auch die Digitalisierung unserer Gesellschaft hat, führt für Sie zu diesem ZERO-Moment.

CM: Ja. Auch dass eigentlich die Gesellschaft mit dem enormen Grundbetrieb und Museumsbetrieb alles satthat, was da so ankommt. Das ist doch ein ZERO-Point. Was die sich im Kopf ausdenken, was man noch ausstellen könnte. Und dann einen Chinesen Körper flechten lassen im Museum, also schon diese Idee ist doch hirnrissig [lacht]. Das zeigt doch schon, dass sie nicht mehr wissen, was. Da ist gar nicht mehr die Frage nach der Kunst. Gut, ich war ja selber Professor einer Akademie. Aber was soll denn heute ein Professor denen sagen? Die kommen mit ihrem kleinen Computer, tippen, was der fragt, und wissen alles.

RS: Das heißt, wir brauchen ZERO auch, um wieder eine Linie und einen Ausgangspunkt zu definieren in einer Gesellschaft, die vielleicht übermedialisiert ist?

CM: ES ist die Frage nach der Kunst. Was ist die Kunst eigentlich? Was bringt die Kunst im Unterschied zu einem Industrieprodukt zum Beispiel, und: Brauchen wir das überhaupt?

RS: Vielleicht da an dieser Stelle noch mal direkt in die Theorie Ihres Manifests: Ein Jahr nach Ihrer ersten Ausstellung in Kopenhagen verfassten Sie Ihr Manifest „Ein neuer Raum“. Bleibt das weiter aktuell?

CM: Das ist für mich sehr aktuell. Gerade, weil ich selber versuche, mich im Manifest zu bewegen, mache ich ja immer noch Objekte und suche immer auch Zusammenhänge zu Geschichte und allem Möglichen. Für mich existiert der ZERO-Aspekt noch und gibt mir noch die Möglichkeiten, ein Thema aufzugreifen, ganz neu zu interpretieren und dann experimentell zu versuchen, tiefer in eine Problematik hineinzukommen. Das kann man eigentlich durch mein ganzes Werk sehen. Auch meine Faszination für Ägypten und die Architektur Ägyptens, wo alle anderen eigentlich mehr die Malerei sehen. Mich interessiertmehr das ganz Fundamentale bis in die frühe Steinzeit und hin zu, wo fängt das eigentlich an? Es gibt ja auch eine Unendlichkeit im Rückblick, also in der Geschichte. Irgendwo haben wir ja dann keine Informationen mehr, haben aber immer noch die Spuren.

RS: Ich habe den subjektiven Eindruck, dass der Bildhauer im Gegensatz zum Maler oder anderen Kunstgattungen der bessere Kunsthistoriker ist, mit einem tieferen Verständnis dessen, was die Grundlagen unseres heutigen Wirkens ausmachen...

CM: Ein Stein ist ja nicht einfach ein Stein, der Bildhauer muss daher schon aus statischen Gründen herausfinden, was verträgt der Stein überhaupt, was kann ich damit machen und was nicht? Ihm sind ja überall auch Grenzen gesetzt, auch bei Holz. Es ist ja nicht so, dass die Sachen da unsterblich sind und ewig halten [lacht].

RS: Kommen wir noch einmal auf die aktuelle Serie zu sprechen: Wie können wir das Konzept Raum an diesen hinter uns hängenden Arbeiten aus Ihrer Interpretationsperspektive festmachen?

CM: Also die Wahl des Reliefs weist ja schon auf den Raum. Ein komplizierter zwar, aber... ein Raum. Dieses Aufsplitten ist vielseitig, der typische Schweizer dagegen neigt zu enormen Vereinfachungen, der kommt ja auch mit viel weniger Worten aus als der Deutsche [lacht]. Daher sind meine prototypes eigentlich ganz einfach. Das ist für mich der typische Schweizer. Aber dann aufs Ganze gesehen, die Versplittertheit, die Gegensätze, dauernd fällt wieder alles auseinander. Das hat mich gereizt und im Relief stellt es sich eben anders dar als eine Flagge. Das ist etwas Labiles. Die Schweizer sind nicht labil, die sind stur, die sind festgefahren in irgendetwas. Jeder für sich natürlich, der Walliser anders als der Berner, der Freiburger anders als der Zürcher. Ganz klar.

RS: Jetzt baue ich Ihnen eine Brücke, etwas Freundliches über Ihre Eidgenossen und Mitbürger zu sagen. Sie haben gesagt, die Serie und das Arbeiten daran haben Ihnen große Freude bereitet und das Ergebnis ist zu Ihrer großen Zufriedenheit ausgefallen. Worin liegt das begründet, Herr Megert [lacht]?

CM: Ja, also ich bin in der Schweiz aufgewachsen, natürlich liebe ich die Schweiz. Nicht dass mir das Land nicht gefällt, ich habe eher politische Probleme damit. Das ist nicht so schlimm, ich habe ja eine neue Heimat gefunden, da bin ich zufrieden.

RS: [lacht]

CM: Und die Schweiz liebe ich ja auch mal für zwei, drei Wochen, zweimal im Jahr, das ist schon okay. Ich kann natürlich auch sagen, was für mich oder als Künstler überhaupt das Schlimmste ist an der Schweiz...

[Lachen im Hintergrund]

CM: Für den Künstler: A) In der Schweiz ist Kunst kein Beruf, es ist aber auch keine Wissenschaft, also du bist als Künstler in der Schweiz frönst du deinem Hobby. Das ist verpönt und ganz schlimm für den Schweizer, sein Hobby sogar zu seinem Beruf zu machen. Da bist du schon kriminalisiert. Und zwar jeder einzelne junge Künstler, ob er nun Musik, Tanz oder was immer er macht. Es wird geduldet, aber er kommt nie über das Dasein eines Typen hinaus, der [sein] Hobby betreibt.

Frau im Hintergrund: Aber jetzt gibt es doch große Ausbildungsstätten auch für die Künstler und...

CM: Dennoch, das Schweizer Recht akzeptiert keinen Künstler als Berufswahl. Also das BIGA sagt ganz deutlich: Kunst ist kein Beruf. So wie Architekt kein geschützter Titel mehr ist. Vielleicht ist das geändert worden, aber bis vor zehn Jahren war der Architekt in der Schweiz kein geschützter Titel.

RS: Da kommen wir vielleicht wieder direkt an der Stelle zu einem guten Einstieg zurück ins Werk: Der Betrachter ist durch den Spiegel immer Teil Ihrer Installation.  Wie muss er funktionieren, der Betrachter, um das Werk zu vollenden, geben Sie ihm eine Aufgabe mit?

CM: Erstens mal muss er neugierig sein. Und das ist er in der Regel, sonst würde er gar nicht davorstehen, weil die Werke meistens in einer Galerie hängen. Die Galerie ist der Ausweis, dass er vor Kunst steht. Und die Neugier muss sein: Was ist daran Kunst? Da fängt es an. Sonst brauchen wir keine Galerien und Museen und Ausstellungen.

RS: Vielleicht ein guter Punkt, ich glaube, die Neugier ist für jeden Kunstbetrachter und jeden Kunstliebenden ein ganz wichtiges Thema.

CM: Ganz wichtig!

162 x 142 x 14 cm, 2011, Holz, Spiegel, im verglasten Holzkasten

RS: Bevor ich dann zu meiner Abschlussfrage komme, bieten Sie damit noch mal Raum für den kleinen Exkurs: Sie haben Joseph Beuys angesprochen, der zu der Zeit, als Sie nach Düsseldorf kamen, das Rheinland und die Akademie hier dominiert hat und letztendlich auch die Klasse Beuys, Raum 21 und so weiter...

CM: Ich meine, hier war immer eine gespaltene Gesellschaft, die Beuys-Anhänger waren wie eine Sekte. Und ich würde sagen, die Mehrheit der Düsseldorfer hatte doch eher Mühe damit [lacht]. Düsseldorf hat in den 60er und 70er Jahren eine große Kunstszene gehabt, da war ja nicht nur Beuys. Es war eine gewaltige Bewegung, da war das Junge Rheinland und es gab es auch noch Ruthenbeck und Palermo, Eva Hesse, es war wirklich eine Szene hier.

RS: Dreißig Jahre nach Beuys‘ Tod und rund ein Jahr vor seinem 100. Geburtstag – was würden Sie sagen? Ich glaube, der politische Beuys, den haben wir fertigdiskutiert. Was bleibt künstlerisch von Joseph Beuys?

CM: Die ausgestopften Hasen [lacht]! Also mit dem Fett hat man schon etwas Mühe, nicht? Wenn man aber die Kunstmarktpreise von Beuys‘ Zeichnungen oder Graphiken ansieht: gleich Null.

RS: Richtig. ZERO hat seine Renaissance, vielleicht hat auch er das eines Tages, man wird es sehen.

CM: Sicher, das ist wie Monte Verità: Alle schlechten Künstler versammeln sich an einem Ort [lacht], und dann werden sie berühmt als Ort.

RS: Meine Abschlussfrage, Herr Megert: In einem Interview sagten Sie einmal, lehren wollten Sie eigentlich nie. 2016 würdigten Ihre Studenten Sie mit einer umfassenden Ausstellung. Für viele von ihnen sind Sie heute ein Idol. Auch Sammler, Kuratoren und der Kunstmarkt verhelfen Ihnen aktuell zu einer nie zuvor dagewesenen Rezeption. Wie fühlt sich dieser Rummel heute für Sie an?

CM: Ich habe ja immer das Gefühl von Erfolg. Für mich war ein Erfolg, dass mich zum Beispiel, dass mich die Akademie berufen hat. Aber auch, wenn eine Galerie mit einem in meinem Sinne guten künstlerischen Programm mich eingeladen hat, mit ihnen auszustellen. Aber ich bin auch oft skeptisch, zum Beispiel bei einer Retrospektive mit Arbeiten vielleicht noch aus den 50er Jahren bis heute. Wie kann ich denn eine Arbeit von damals neben einer Arbeit von heute funktionieren? Und dann kommt es doch zustande und kann gar nicht anderes sein.

RS: Also kann man abschließend die Frage stellen: Gibt es ein geschlossenes Kunstsystem Christian Megert?

CM: Es gibt ein geschlossenes Kunstsystem Christian Megert. Wie es eines gibt Yves Klein oder Heinz Mack oder Günther Uecker, natürlich.

RS: Ein wunderbares Schlusswort. Lieber Herr Megert, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch und die tiefen und sehr privaten Einblicke und persönlichen Betrachtungen. Ich glaube, wir haben viel herausgearbeitet. Vielen Dank.

Rene S. Spiegelberger führte das Gespräch am 16. Juli 2019 im Düsseldorfer Atelier des Künstlers.
Christian Megert wird vertreten von den Galerien 
www.galerie-geiger.de und setareh-gallery.com. Mehr Informationen zum Künstler finden Sie unter www.megert.de