Ateliergespräch - Robert Longo

RL: Diese Leute waren schon hier, als ich vor 27 Jahren hier ausgestellt habe.

RSS: Vor 27 Jahren?

RL: Ja, ich hatte hier eine Ausstellung vor 27 Jahren...

RSS: Und Sie können sich noch an die Leute erinnern?

RL: Ja, die waren sehr gut. Es waren besonders tolle Menschen, weil sie zum einen deine Bilder aufhängen, aber gleichzeitig schauen sie sich deine Arbeiten an. Wirklich toll. Man bekommt Feedback, einfach weil diese Leute ihre Arbeit lieben. Also sie sagen mir, dass sie sie lieben, aber ich glaube das auch. Und dass sie meine Werke schon 1991 gesehen haben und sie jetzt wieder zu sehen bekommen... Sie sagen mir, wie sehr sich meine Arbeit verändert hat. Das ist schön.

RSS: Und es spricht ja für die Deichtorhallen als Ausstellungsstätte, dass hier Menschen ihr ganzes Leben lang arbeiten [lacht].

RL: Es ist ein großer Ausstellungsraum.

RSS: Ja, das ist wahr, und dadurch haben wir die Möglichkeit, internationale Künstler_innen hier in Hamburg zu empfangen. Herr Longo, Sie haben Richard Serra als Ihren Paten bezeichnet und der Held Ihrer Jugend war Bruce Nauman. Was bedeuten Goya und Eisenstein für Sie und dass sie diese Ausstellung mit Ihnen teilen?

RL: Als die Kuratorin Kate Fowle mir diese Ausstellung vorschlug, habe es nicht ganz ernst genommen. Diese beiden Giganten der Geschichte: Was mache ich dabei? Hänge ich die Drucke auf? Lasse ich den Projektor laufen? Aber dann verdeutlichte sie mir, dass ich ihr immer schon von diesen Künstlern erzählt habe und wie wichtig diese für mich als Einflussquellen sind. Kate sagte, es geht um deine eigenen Zeugnisse der Zeit, in der du lebst. Und dann erklärte sie mir, wie wir zusammenpassen, und es ergab tatsächlich Sinn für. Ein Künstler betreibt Recherche und es ist wichtig zu wissen, wer vor einem kam. Man will ja nicht das Rad neu erfinden. Deshalb finde ich diese beiden Künstler definitiv höchst einflussreich, höchst inspirierend. Es bestehen Verbindungen auf so vielen unterschiedlichen Ebenen.

RSS: Ich vermute, das ist einer der Gründe, warum Sie so eine enge Verbindung zu Richard Serra haben. Ich hatte einmal das Glück, ihn in der Fondation Beyerler zu der Brancusi und Serra-Ausstellung zu interviewen. Das war für mich die größte Lehrstunde in Kunstgeschichte, die ich je bekommen habe. Er ist so bewandert, was die internationale Geschichte der Skulptur über die Jahrhunderte angeht.

RL: Ich traf ihn, als ich noch sehr jung war und er hat mich stark beeinflusst. Ich organisiere ein Künstlertreffen in Buffalo, zu dem Richard einmal auftauchte und einen Vortrag hielt. Es schneite, und er saß dort ein paar Tage mit uns fest. So konnte ich ihn ungehindert mit Fragen löchern. Dadurch freundeten wir uns an und viele Jahre später, im Jahr 1981, als ich meine erste Ausstellung in New York hatte, war er bei der Eröffnung. Es wurde gefeiert, es gab eine Bar und wir saßen da zusammen und betranken uns. Er hielt mir diesen langen Vortrag darüber, wie man große Kunst macht. Es ist inzwischen zu einer Art Witz zwischen uns geworden, dass er sich immer, wenn ich ihn sehe, zu mir herüberbeugt und mir ins Ohr flüstert: „Ich hoffe, du machst immer noch große Kunst.“ Naja, nicht so groß wie seine, nebenbei gesagt.

RSS: Herr Longo, als wir dieses Interview vorbereitet haben, habe ich gelesen, dass Ihr Arbeitstag von unterschiedlicher Musik begleitet wird. Sie starten mit Chopin, klassischer Musik, Rock’n’Roll, Rap und dann enden Sie mit Jazz. Sie haben außerdem mal gesagt, dass Sie anhand der Bilder erkennen können, welche Musik Sie gehört haben.

RL: Naja, es gibt ja so viel unterschiedliche Musik. Dieses hier war zum Beispiel Yo-Yo Ma, die Cello-Konzerte von Bach. Das da drüben war eher eine Menge Jazz... Und ich mag sehr gern Rockmusik mit Instrumentals, z.B. Explosion In The Sky, Perkins. Aber es ist manchmal schwierig, die einzelnen Songs zu identifizieren. Als ich jünger war, war es viel einfacher. Da konnte ich sagen: „Das war Joy Division oder Talking Heads.“ Heute ist es komplizierter, es gibt so viel mehr... Spotify hat unser Leben verändert! Du legst heute keine Platten oder CDs mehr auf, sondern schaltest eine dieser Stations an... viel Nick Cave.

RSS: Das hier war Nick Cave?

RL: Eigentlich war es nicht Nick Cave, sondern Nick Cave und Warren Ellis, die machen wunderbare Soundtracks zusammen. Nick Cave ist definitiv einer der großen [Einflüsse].

RSS: Im Jahr 2012 haben Sie in einem Interview gesagt, Ihre Einstellung sei optimistisch. Wenn Sie sich die Welt jetzt ansehen, sechs Jahre später, würden Sie sich immer noch als optimistisch bezeichnen?

RL: Oh je, das ist interessant. Ich bin im Zeitalter von Reagan aufgewachsen. Ich wuchs mit John Wayne in dem Bewusstsein auf, dass die USA die Guten und die Russen die Bösen sind. Dann geschah das in Vietnam und ich begann zu verstehen, dass die USA nicht mehr die Guten sind. Dann kommt ein George Bush vorbei und lässt uns wie totale Idioten dastehen. Und dann folgt ein Obama und wir sehen wieder ziemlich gut aus. Und dann kommt Trump. Aber die Zeit von Reagan ist sehr wichtig. Ich begann mich als Künstler zu etablieren, als Reagan an die Macht kam, und Reagan war so etwas wie Donald Trump Teil Eins. Er war derjenige, der zuerst gesagt hat: „Let’s make America great again!“ und er ist ziemlich gruselig. Er konnte nicht einmal das Wort AIDS sagen, ich denke, er war einer der schlechtesten Präsidenten überhaupt – alle denken, er war toll, aber ich finde, er war furchtbar. Und ich glaube, er war damals der Anfang von dem, was Trump jetzt ist. Aber dann kam George Bush, und das war einfach furchtbar peinlich. Ich habe mir immer gedacht, die USA brauchen wahrscheinlich hundert Jahre, um jemals diesen Image-Schaden wieder auszubügeln, den er angerichtet hat. Doch es war quasi über Nacht: Stell dir bloß mal vor, die USA würden zu einer Werbeagentur gehen und sagen: „Wir haben dieses Imageproblem, wie können wir das beheben?" Und irgendein schlauer Werbemensch wird sagen: „Ihr braucht einen schwarzen Präsidenten!“ Obama hätte genauso gut der Präsident von Deutschland oder Frankreich gewesen sein können. Es war ein unglaublicher Moment. Aber jetzt schwingt das Pendel in die andere Richtung und Trump ist grauenhaft. Es ist eine wirklich beängstigende Zeit, die Zwietracht sät. Daher bin ich nicht mehr so optimistisch. Das macht mich traurig. Es ist merkwürdig, denn ich habe Kinder und denke so ungefähr hundert Jahre in die Zukunft: Was für eine Welt hinterlasse ich? Und jetzt habe ich sogar eine Enkeltochter und ich denke zweihundert Jahre in die Zukunft. Trump macht mir Angst. Es ist, wie Hitler an die Macht kommen zu sehen. Er ist kein Republikaner, er ist Trump. So wie Hitler nicht einfach bloß ein Nazi war – er war Hitler. Er ist ein blinder Verfechter seiner Ideologie und will einfach alles kontrollieren. Und ich bin mir sehr bewusst, dass bald eine Zeit in meiner Karriere anbrechen könnte, in der Trump twittert: „Geh zu Longos Kunstausstellung und brenn sie nieder – reiß die Bilder von der Wand und verbrenn sie!“ Er hat diese Macht und das ist furchteinflößend.

RSS: Hat er das wirklich getwittert?

RL: Nein. [lacht] Aber ich könnte es mir gut vorstellen. Er ist so verantwortungslos und so achtlos mit allem. Er denkt, er steht über dem Gesetz und das ist verdammt scheiße.

RSS: Sie sind ein sehr politischer Mensch. Daher möchte ich Ihnen zwei Fragen zu Ihrem Verhältnis zu Europa und Deutschland stellen, vor allem Ihrem persönlichen Verhältnis zu Deutschland. Was denken Sie über Kanzlerin Merkel?

RL: Ich denke, sie ist eine wahre Heldin. Die Ironie ist, dass sie innerhalb dieser wahnsinnigen Welt die Stimme der Vernunft zu sein scheint. Wirklich ironisch. Eine ostdeutsche Wissenschaftlerin, die Tochter eines Pfarrers oder so?

RSS: Ja.

RL: ...die unglaublich langweilig ist. Ich erinnere mich an das erste Mal, dass ich sie im Fernsehen reden hörte, es war eine Weihnachtsansprache. Ich war damals in Hamburg und dachte bei mir, oh Gott, diese Frau ist unglaublich langweilig. Was aber interessant ist im Vergleich zwischen Deutschland und den USA – ich lebe mit einer Deutschen zusammen und weiß mehr über deutsche Geschichte als die meisten Amerikaner – was mich an den Deutschen immer beeindruckt hat, ist der Versuch, nach dem Zweiten Weltkrieg die Sünden ihrer Väter aufzuarbeiten. Ich denke, das war unglaublich ehrenhaft, und die USA hingegen haben nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg keinen Versuch unternommen, die Sünden ihrer Väter im Zusammenhang mit den 400 Jahren Sklaverei aufzuarbeiten. Die USA beendeten zwar die Sklaverei, aber sie haben sich nie mit den Konsequenzen beschäftigt. Eines der Dinge, die interessanterweise heute in den USA passieren, ist der Abriss von Südstaaten-Denkmälern. Ironischerweise machen sie das nachts. Und es sieht ein bisschen aus wie – wissen Sie, was lynchen bedeutet?

RSS: Ja.

RL: In den Südstaaten wurden oft Schwarze gelyncht. Jetzt sieht es so aus, als ob sie die Statuen lynchen. Weil sie die Statuen abreißen. Es ist ein sehr poetisches Bild, diese Abbilder der Südstaaten... Stellen Sie sich vor, in Virginia gibt es diesen Ort mit einer Straße, die Monument Alley genannt wird, weil dort drei riesige Statuen von Generälen und dem Präsidenten der Südstaaten-Konföderation stehen. Stellen Sie sich mal vor, in Deutschland stünden Statuen von Himmler und Goebbels – Aber es gibt sie und jetzt versuchen Aktivisten, sie abzureißen, und ich denke, das ist ein wirklich bedeutender Moment. Wir versuchen, [unsere Geschichte] aufzuarbeiten. Das Problem ist, Obama hat uns gezeigt, dass die USA ein höchst rassistisches Land sind. Trump zeigt uns, dass wir rassistisch sind, aber gleichzeitig auch wie ein Unternehmen funktionieren, das ist so gruselig in Bezug auf Trump. Trump könnte einen positiven Einfluss haben, aber wir sehen mal, was passiert. In den USA kämpfen gerade weiße Männer in meinem Alter und älter darum, die Kontrolle zu behalten, weil wir wissen, dass wir sie nicht mehr lange haben werden. Oder wir haben diese Vorstellung, aus irgendeinem Grund die rechtmäßige Herrschaftsklasse zu sein. Aber egal.

RSS: Zurück zur Kunst. Aber lassen Sie uns noch ein wenig bei der Politik bleiben. Sie haben gesagt, egal was Sie tun, die Kunst treibt Sie immer zurück in die Politik, sie schreit Sie förmlich an. Schreien diese Zeiten noch ein bisschen lauter? Verarbeiten Sie die aktuellen Themen der Welt in Ihrer Kunst?

RL: Ich denke, das ist sehr wichtig. Kunst zu machen ist ganz klar ein politischer Akt. Ob ich nun Blumen male oder nackte Frauen – Kunst zu machen ist die Freiheit des Ausdrucks und das ist ein politischer Akt. In diesem Sinne ist jede Kunst politisch. Es ist, denke ich, eine Tatsache, dass die Bilder, die ich mich genau jetzt gezwungen sehe, zu malen, politisch sind. Aber lassen Sie mich noch einmal zurückblicken: Dieses Gemälde von Manet ist ein perfektes Beispiel für etwas, das unterschwellig politisch ist. Wenn man das ursprüngliche Gemälde Bar in den Folies-Bergère [betrachtet] – und das ist der Grund, warum ich mich für Röntgenaufnahmen interessiere, denn man kann darauf das Unsichtbare, das Ursprüngliche sehen – also was Manet zunächst gemalt hat, ist diese Frau. Es waren normalerweise Prostituierte, und Männer gingen da hin, um einen Drink zu kaufen. Was aber wirklich interessant ist, ist das ursprüngliche Gemälde auf der unteren Schicht: Sie hat zwei Paar Augen. Und man kann sehen, dass sie die Arme ursprünglich vor dem Körper verschränkt hatte. Das heißt, sie war viel unterwürfiger und hatte die Augen gesenkt – aber dann hat Manet sie am Ende so gemalt, die Arme so [offen] und sie schaut den Betrachter direkt an und ist sehr viel kraftvoller. Es ist fast so, als würde sie sich entwickeln, von „Ja, du kannst mich haben“ zu „Was zum Teufel willst du?“, sie wird als richtig stark dargestellt. Und es gibt noch eine weitere lustige Tatsache: Das Bild wird zu einem soziologischen Portrait, denn es enthält ein paar Dinge – sehen Sie all diese Flaschen Champagner, die hier auf der linken Seite stehen? Auf der rechten Seite, in der Ecke hier, steht Bass-Bier – kennen Sie Bass-Bier, das mit dem roten Quadrat [muss heißen: Dreieck. Sic!]? Es ist tatsächlich das erste Bier, das jemals unter Copyright stand. Warum verkaufen sie britisches Bier in den Folies-Bergère, wenn es Champagner gibt? Der Grund, warum sie Bass-Bier dort verkaufen, ist, dass englische Männer in die Folies-Bergère kamen, um die Frauen dort zu ficken, und die wollten dieses Bier trinken.

RSS: Ihr eigenes Bier von zu Hause, aber in Paris...

RL: Das ist bizarr, oder?

RSS: Manche Dinge ändern sich nie. Sie sagen, die wirkliche Herausforderung Ihrer Arbeit – mal abgesehen von der Technik – ist, die Balance zwischen der persönlichen und der sozial-relevanten Ebene zu finden. Klappt das immer oder gibt es Unausgewogenheiten?

RL: Erinnern Sie sich an diese alten Radios, bei denen man fühlen konnte, wenn der Sender reinkam? Ein bisschen so ist es, die Balance zwischen der sozial-relevanten und der völlig persönlichen Ebene zu finden. Das Problem dabei ist: Wenn es zu persönlich wird, ist es nur narzisstischer Bullshit. Wenn es zu politisch wird, ist es bombastischer Blödsinn. Es ist meiner Meinung nach äußerst wichtig, die Balance zu finden, und dass die Bilder sehr persönlich sind. Gleichzeitig müssen sie definitiv politische Bedeutung haben. Diese Balance zu finden, ist ein kritischer Moment. Ich glaube, in den meisten großen Kunstwerken kann ich diese Balance sehen. Aber ich sehe auch, dass persönliche Themen sehr wichtig sind, und dass man diese persönlichen Themen zu der Zeit zwischen sechs und 13 zurückverfolgen kann, der Zeit, in der sich die Persönlichkeit entwickelt. Wenn man eine Verbindung dazu herstellen kann, ist das in meinen Augen noch tiefgreifender. Ironischerweise bin ich mit Schwarz-Weiß-Fernsehen aufgewachsen. Das heißt, alle Bilder, die ich während der prägenden Zeit meines Lebens zu sehen bekam, waren immer hinter Glas. Das ist der Grund, warum ich immer Glas verwende. [lacht] Das ist lustig, denn ich habe mich mit [Anselm] Kiefer über seine Arbeiten unterhalte und ich sagte, das sieht alles aus wie verschandelte Landschaften. Und er sagte, das ist, wo ich aufgewachsen bin. Und das hier ist, wo ich aufgewachsen bin.

RSS: Schwarz-Weiß, hinter Glas. Aber Sie arbeiten nicht nur mit Röntgenaufnahmen, sondern auch mit Fotografien. Hier meine Frage: Man sagt, die Funktion von Fotografie ist das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft. Viele Ihrer Bilder basieren auf Fotografien, welche Erinnerungen wollen Sie unseren Nachfahren vermitteln?

RL: Ich nutze Fotografien als Ausgangspunkt, aber dann verändere ich sie stark. Auf diese Weise versuche ich, so etwas wie uralte Archetypen heraufzubeschwören, wie zum Beispiel die Zeichnung mit dem Floß: Ich habe versucht, so oft wie möglich die Bildrechte zu kaufen oder die Erlaubnis einzuholen. Also habe ich das Foto von dem Typen gekauft, der für Ärzte ohne Grenzen arbeitet, eine Organisation, mit der ich auch zusammenarbeite. Aber das einzige, was ich von ihm übernommen habe, sind die Menschen auf dem Floß. Das Wasser, der Himmel, all das habe ich selbst hinzugefügt. Das Wasser habe ich tatsächlich vom Strand vor meiner Haustür übernommen, es ist das Wasser, in dem ich immer baden gehe. In dem Sinne ist das ganze Bild komplett konstruiert. Ich denke auch, dass wir uns eher in Fotografien erinnern. Daher will ich [die Illusion von] Fotografien heraufbeschwören, indem ich Papier verwende, das die Körnung einer Fotografie imitiert und das Gefühl vermittelt, dass es sich fast um ein Foto handelt – gleichzeitig jedoch keines ist. Diesen Bildersturm zu beschwichtigen, hat auch damit zu tun, dass ich diese höchst aggressiven Bilder in einem so fragilen Medium wie Kohle herstelle. Ich bin der Höhlenmensch in diesem Szenario. Ich arbeite mit Kohle. Goya hat Drucke hergestellt, das ist schon etwas moderner, und Eisenstein macht Filme. Meine Bilder sind in höchstem Maße fragil, weil sie in gewissem Sinne aus verbranntem Staub bestehen. Alle weißen Stellen in den Zeichnungen sind das Weiß des Papiers, und in diesem Sinne ist [meine Kunst] das Gegenteil von traditioneller Malerei. Vielleicht würden naivere Personen sagen, [die Bilder] sehen aus wie Fotos. Aber dann erzählst du ihnen, dass es sich dabei um Kohlezeichnungen handelt, und sie schauen ein bisschen genauer hin, denn die Leute respektieren Arbeit und dies hier sind arbeitsintensive Bilder, es dauert richtig lange, sie zu machen. Die Tatsache, dass die Leute da länger hingucken, ist wirklich interessant. Wenn es nur ein Foto wäre, würden sie nicht so genau hinschauen, weil sie denken, es wurde in einer Sekunde geschossen. Sie würden sich nicht die Zeit nehmen. In einer merkwürdigen Gleichung nehmen sie sich so viel Zeit für das Bild wie es gedauert hat, es herzustellen.

RSS: Sie haben da gerade eine Brücke geschlagen. Ich habe gelesen, dass vor 32.000 Jahren bereits Menschen in Höhlen gemalt haben – wie Sie sagten, Höhlenmenschen malten mit Kohle – und auch da steckte viel mehr Arbeit drin, als einfach ein Foto zu schießen.

RL: Aber damals hatten sie keine Kameras. Und sie haben andere Arten von Bildern gemalt.

RSS: Viele Leute würden sagen, der Kern Ihrer Arbeit – ich weiß nicht, ob Sie das gern hören – sei die Serie Men in the Cities. Aber ist es nicht eher die Übersetzung von Fotografie in eine Zeichnung oder der Nachbau von Gemälden, was den Kern Ihrer Arbeit ausmacht? Das Unsichtbare sichtbar zu machen? Wie Sie gesagt haben, ein Foto kaufen, den Moment herauskristallisieren, Arbeit hineinstecken, eine Röntgenaufnahme machen.

RL: Nein, es geht auch darum, die Aura nach Walter Benjamin zu sehen. Ich mag es definitiv, wenn Leute das Unsichtbare zu sehen bekommen. Aber was ist der Kern meiner Arbeit? Wenn ich das wirklich wüsste, würde ich wahrscheinlich aufhören, diese Arbeit zu tun... Die Serie Men in the Cities ist so anders als diese Bilder, weil man die Bilder in Men in the Cities wie eine Kamera betrachtet, wie einen Schnappschuss, sie passieren im Moment. Aber es ist interessant in Bezug auf Men in the Cities, dass die Bilder jedes Mal passieren, wenn man sie anguckt. Ganz im Gegenteil zu diesen Bildern, die es erfordern, dass man sie sich genau anschaut. Das ist etwas ganz Anderes. Der Tagtraum, die Zeit, die man damit verbringt, diese Bilder anzuschauen, verhält sich anders als bei Men in the Cities. Außerdem ist es – ironischerweise – wohl so, dass ich in historischer Sicht für genau das Zeug in Erinnerung bleiben werde. Die Ironie liegt darin, dass, wenn man zu Lebzeiten einen Archetypus etabliert, dieses Werk in die Kultur eingeht und man selbst die Urheberschaft verliert. Es gab zum Beispiel einen Moment, als die Freundin meines Sohns dachte, ich hätte die Idee aus der iPod-Werbung. Und dabei sind die Zeichnungen etwa 30 Jahre alt... Die Men in the Cities-Serie war sehr wichtig für mich, sie hat mir den Weg geebnet, diese Sachen zu machen.

RSS: Das Unsichtbare sichtbar machen – sehen Sie heute noch die Notwendigkeit dazu, wenn die Leute mehr und mehr transparent werden durch soziale Netzwerke und eine informationsüberflutete Welt?

RL: Ich denke, Menschen schauen nicht richtig hin, weil all diese Dinge so vergänglich sind. Es gibt nichts, was von längerer Dauer ist. Ich glaube, die Bilder haben keine Tiefe mehr. Gleichzeitig kommt jemand wie Kanye West auf mich zu und spricht mich an, weil er meine Arbeiten für irgendwas verwenden will. Und da sagt er: „Erzähl mir was über Kunstgeschichte.“ Wir haben also diesen Typen, der eigentlich ganz vergängliche Bilder auf Instagram postet, aber er erkundigt sich tatsächlich nach Kunstgeschichte, weil er sich im Klaren darüber ist, dass das eine Sprache ist, die er nutzen kann. So einer wie er ist klug genug zu wissen, dass Geschichte eine Waffe darstellt. In den richtigen Händen jedenfalls.

RSS: Ein Bild, über das Sie in allen Interviews sprechen, ist Das Floß der Medusa. Was ist für Sie so besonders an diesem Gemälde? Ist es die Hintergrundgeschichte oder die Geschichten, die sich der Betrachter dazu ausdenkt?

RL: Ich habe darüber viel gelesen und ich liebe dieses Gemälde, weil es eine politische Lage darstellt, die genau dieselbe Lage ist, in der sich die Leute auf dem Floß befinden. Es ist dieselbe Situation, Ungleichverteilung von Reichtum. Die Leute auf dem Floß wurden im Grunde von den Aristokraten im Stich gelassen und trieben für 15 Tage umher. Sie kamen nach Paris zurück und wollten es erzählen, aber man sagte ihnen nur, sie sollten die Klappe halten. Ich denke, das Verhältnis zwischen dem Floß der Medusa und meinem Floß ist, dass es sich um die zeitgenössische Version handelt. Meines ist nicht so gut wie seins [Théodore Géricault, Anm. d. Übers.], doch... [lacht] In dem Raum da drüben hängt eine Version des Floß der Medusa, aber sie ist total verschwommen. Wie eine schnell vorgespulte Erinnerung.

RSS: Herr Longo, eine letzte Frage: Ihr Verlangen nach dem Epischen sei Ihrer Kindheit und Spartacus geschuldet. Ist diese Show episch?

RL: Ich schaffe es, episch zu sein, oder versuche es zumindest. Ich denke, diese Show ist verdammt episch, ja. Ich bin sehr zufrieden damit. Das liegt aber auch daran, dass die Leute, die hier arbeiten, so großartig sind. Das sind dann eben genau die Leute, für die man gern arbeitet... Ich denke, die Show ist ziemlich episch, ich hoffe es, ja, ich denke schon.

RSS: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Rene S. Spiegelberger mit Robert Longo am 15. Februar 2018 anläßlich der Eröffnung seiner Ausstellung Proof in den Hamburger Deichtorhallen.