Unikat XVII - Jay Gard

„Was für die Evolution der Gesellschaft die Evolution von Sprache bedeutet hatte, ist für die Evolution des Kunstsystems die Evolution des Ornamentalen.“  Niklas Luhmann

Die Frage nach dem Wesen der Form ist eine der Kernfragen der Kunstgeschichte wie auch ihrer Nachbardisziplinen. Zahlreiche Debatten wurden und werden über die „gute Form“, über ornamentale Formen und – im Zuge der Abstraktion – über „formlose“, also sich von jedweder Gegenständlichkeit lösende Formen, geführt. Bis heute ist der Diskurs nicht an einem Ende angekommen, immer wieder schwenken die Positionen um. 1893 attestierte der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl dem Ornament als der kleinsten und schmückendsten Einheit von Form eine eigenständige Stilgeschichte. Bereits 1908 forderte dagegen sein Landsmann Adolf Loos in seiner Schrift „Ornament und Verbrechen“ dazu auf, auf jedwedes Ornament zu verzichten. Die Pioniere der abstrakten Malerei wie Paul Klee oder Piet Mondrian fürchteten nichts „mehr, als dass ihre revolutionären Errungenschaften mit Ornamenten verglichen würden. Jedoch, das ‚Reich des Ungegenständlichen‘ existierte, lange bevor Wassily Kandinsky um 1911/12 sein erstes abstraktes Aquarell schuf, allerdings angesiedelt im dienenden Bereich der Dekoration und Ornamentik. Heute stehen wir vor der Situation, dass die Malerei der Gegenwart von Frank Stella bis Philip Taaffe ohne den Begriff des Ornaments gar nicht mehr zu diskutieren ist.“ Zumal Ornamente und auch charakteristische Formen, die in der Sprache des Designs seit den 50er Jahren als „gute Form“ beschrieben werden, unseren Alltag omnipräsent durchziehen – meist ohne dass wir ihrer Schönheit Aufmerksamkeit widmen. Wie entstehen diese Formen? Sind sie in Form gegossener Ausdruck menschlicher Kreativität, spontan entstehende Neuschöpfungen? Und wie prägen sie unser ästhetisches Grundverständnis? In seinem künstlerischen Schaffen widmet sich Jay Gard pointiert und humorvoll, mit ästhetischer Feinsinnigkeit und in teils großen Gesten solchen formspezifischen Fragestellungen.

Seine Überlegungen gehen dabei jeweils mit wahrnehmungstheoretischen Experimenten einher. Denn trotz ihrer allgegenwärtigen Präsenz nehmen wir die unsere Umgebung gestaltenden Formelemente im Regelfall kaum bewusst wahr. Details wie Stuckleisten, die Verzierungen eines Musikinstrumentes oder die schwungvollen Kurven eines Stahlrohr-Freischwinger Stuhls aus der Bauhaus Ära vermengen sich mit den Eindrücken des Alltags und gehen in diesen unter – bis wir einem Werk von Jay Gard gegenüberstehen. Seit inzwischen rund 20 Jahren setzt sich der Künstler intensiv und in einem vielschichtigen Oeuvre mit den Details auseinander, die unseren Alltag im wahrsten Sinne des Wortes formen. In seinen Keramiken, Malereien, großformatigen Skulpturen und Installationen modifiziert er sie dergestalt, dass wir gar nicht anders können als hinzusehen. In „Ouie“ (2023), einer 360 x 90 x 90 cm großen Skulptur aus Holz, vergrößert er das das f-förmige Schallloch eines Cellos um ein Vielfaches und verleiht der negativen Form einen positiven Körper. Aus der durch Abwesenheit von Masse gekennzeichneten Form, die einen Resonanzraum für Schall bildet, wird bei Jay Gard eine monumentale Form als Ode an die Ästhetik dieses funktionalen Dekors. Der spezifischen Form und der ihr immanenten Ausdruckskraft widmet sich Jay Gard auch in der Skulptur „Sanssouci“ (2023). Die 270 x 190 x 500 cm große Arbeit aus Metall kommt einerseits spielerisch leicht, andererseits akribisch konstruiert daher. Ein dunkelblaues Raster bildet die Basis der Skulptur, oder, mit den Worten Gards, den Grundakkord. Um diesen wirbeln, wie in der Musik die Melodie, frei und dynamisch arabeskenhaft geschwungene Bänder in rot und orange, welche die rokokohaft geprägte Formen von Schloss Sanssouci aufgreifen. Der Farbkreis wiederum visualisiert die Analyse des Spektrums in der Gestaltung des Schlosses vorhandener Farbtöne. Die Frage, inwiefern Farben unsere ästhetische Wahrnehmung beeinflussen, ist der zweite Strang, der sich seit zwei Jahrzehnten durch Gards Schaffen zieht und seine Formfragen parallel begleitet. So taucht die Verbindung von Form und Farbe auch in der großformatigen Arbeit „Touristischer Hinweis“ auf, die Gard 2017 für die Skulpturen-Triennale in Bingen fertigte. In Schwarz vor Gelb bildet er auf zwei 200 x 300 cm großen Tafeln, die an der Uferpromenade des Rheins aufgestellt wurden, stark vergrößerte Profile von Stuckleisten ab. In der Konfrontation mit der schieren Größe und vor dem in Signalfarbe leuchtenden Gelb entwickelt die Form einen eigenwilligen Ausdruck, bezieht sich auf die Silhouette der umgebenden Landschaft und lässt interessante Wechselwirkungen aufkommen.

Gemein haben die unterschiedlichen Arbeiten im Großformat, dass ihnen allen kleinformatige zwei oder dreidimensionale Studien vorausgehen, wie Jay Gard sie auch für die Unikat angefertigt hat. In zehn Malereien und zehn Keramiken sind spezifische Grundelemente der Architektur und Innenraum-Gestaltung des vom Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff im Auftrag von Friedrich dem Großen zwischen 1745 – 1747 entworfenen Schloss Sanssouci die Protagonisten. Geradezu wesenhaft treten sie in leuchtenden, oft intensiven Farben in körperliche Erscheinung. So sind sie, egal ob auf dem Papier oder als Plastik, immer als dreidimensional gedachte Körper angelegt. Explizit erfüllt in den Bildern ihr Schlagschatten den umgebenden Raum, er fällt auf den häufig im Schachbrett-Muster angelegten Boden oder eine in leichten Farbverläufen monochrom gestaltete Wandfläche. Als Solitär in dieses Setting gesetzt offenbaren die Formen die perfekt ausbalancierte Harmonie ihrer Gestaltung. Die lockere und dennoch konzentrierte Pinselführung und die teilweise durchscheinenden Vorzeichnungen sowie bewusst unausgeführte Stellen bieten dem Auge einen Kontrast und liefern gezielt imperfekte Momente. Das Ideal des perfekten Entwurfs einer Form wird so im Zuge seiner Darstellung gleichzeitig in Frage gestellt. Ähnlich gestalterisch zweigleisig fährt Jay Gard auch in den Keramiken: Die exakt ausgearbeiteten Sockel aus Beton kontrastieren mit der Betonung der handwerklich freien Ausführung der keramischen Teile. Die zwei oder mehr aufeinandertreffenden, meist hintereinander gesetzten Formelemente aus farbig glasierter Keramik wirken skizzenhaft, sie sind bewusst schnell ausgeführt, um den Ideen des Künstlers eine erste Gestalt zu verleihen.

Jay Gard ist ein Künstler der Form. Seine zunächst abstrakt anmutenden Werke erweisen sich als durchweg dem Gegenstand verpflichtet. Formal erinnern sie oftmals an die opulent gestalteten Metall-Reliefs von Frank Stella, die sich seit den 1980er Jahren in einer farbintensiven Explosion geradezu in den Raum hinein zu entfalten scheinen. Mit Stella teilt Gard auch die Entwicklungslinie von einem strengen Formalismus hin zu einer von überbordenden Formen geprägten Freiheit. In der Freistellung von Form dagegen, wie Gard sie betreibt, meint man hin und wieder Reminiszenzen an die späten Scherenschnitte von Matisse durchblitzen zu sehen. Auch dieser bezog sich letztlich immer auf die Dingwelt, zerlegte menschliche Körper in einzelne Fragmente und brachte diese als Zusammenfügung bunter Formen auf die Leinwand. Wie Matisse, so ist auch Jay Gard nicht darauf aus, neue Formen zu erschaffen. Während sich ersterer als Vertreter der Klassischen Moderne allerdings auf die Wiedergabe von menschlichen Körpern konzentrierte, fokussiert sich letzterer als Protagonist der Postmoderne darauf, bereits existierende Formen aus ihrer Randerscheinung zu lösen und sie in den Fokus zu rücken. Oftmals wirken sie dann, derartig losgelöst, wie Porträts. Jay Gard betrachtet sie unter den Gesichtspunkten ihrer spezifischen Charakteristika, betont diese und arbeitet ihre Umrisslinie, ihre Gestalt und letztlich auch ihre körperliche Wirkung heraus. Genau aus diesem Grund können wir uns der Wirkung seiner Werke vermutlich so schwer entziehen. Ihre individuelle Erscheinung und die Körperlichkeit verleihen ihnen ein so hohes Maß an Persönlichkeit, dass ihre Präsenz den Blick magnetisch anzieht. Seht her, scheinen sie zu rufen, wir spiegeln euch euer eigenes Wesen: den kreativen Prozess des Menschen, seinen Hang zum Formen, zur Formfindung.

In seinen Werken dekonstruiert, zerlegt, dreht und wendet Jay Gard Formen und rekonstruiert sie, wobei er spielerisch Gattungsgrenzen und Materialzusammenhänge überwindet. Normen unserer Wahrnehmung werden auf diese Weise aufgebrochen, Schubladen ästhetischer Konventionen geöffnet und neu sortiert. Eine hölzerne Rahmenleiste begegnet uns dann, wie in den Beton-Sockeln, im angeschnittenen Profil in zeitgenössischem Material, ein Stuckornament wird zum Bildgegenstand, ein Tapeten-Rapport zum Solisten vereinzelt. Die so freigestellten Ornamente und Umrisslinien unterzieht Jay Gard schließlich der Re-Kombination. In der Neuanordnung werden dabei erweiterte Zusammenhänge deutlich, überraschende Übereinstimmungen kommen zum Vorschein und neue Fragen tun sich auf. Sein Arbeitsprozess gleicht in dieser Hinsicht demjenigen der Dekonstruktivisten. Diese konzentrierten sich ebenfalls auf Formen, benutzten „reine“ Formen, also die geometrischen Grundformen und konstruierten mit deren Hilfe aus dem Lot geratene „schiefe“ geometrische Kompositionen. Mit diesem Vorgehen brachen sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit gestalterischen Konventionen von Harmonie und Ordnung und hinterfragten damit die bestehenden Verhältnisse. Jay Gard knüpft an die Denkweise dieser Ahnherren an, bezieht sich ebenfalls auf bereits vorhandene Formen und schöpft deren Potential auf verblüffende Weise weiter aus.

Formen und die Frage nach ihrer Entstehung faszinieren Jay Gard dabei bereits seit seiner Kindheit. Aufgewachsen ist der Künstler in einem Elternhaus, in welchem kreatives Schaffen von Formen und ihre Umsetzung an der Tagesordnung waren. Der Vater, ein Industriedesigner, fertigte aus einfachen Materialien Prototypen, denen der Sohn dann im Alltag wiederbegegnete. Die Mutter, eine Textildesignerin, entwarf in der DDR Stoffmuster. Vor dem Hintergrund einer derartigen Sensibilisierung blickt Jay Gard bis heute mit einem formsicheren Blick auf die Welt und sieht zielgerichtet Details, die der Großteil von uns ebenso zielgerichtet übersieht. In seinem gattungsübergreifenden Schaffen setzt er sie auch und insbesondere in einen epochenübergreifenden Diskurs. Sein Werke werfen Fragen danach auf, ob Formen vergangener Epochen heute noch zeitgemäß sind bzw. wie sich auf ihrer Basis etwas Zeitgenössisches herstellen lässt. Denn, da ist sich der Künstler sicher: „Man kann auf dieser Welt Nichts neu machen. Alles was da ist, basiert auf Vorherigem. Lediglich der Zufall lässt zuweilen Neues entstehen, der Rest ist Kombination.“ Diese Kombination hat Jay Gard perfektioniert. Er vollführt sie auf vielfältige Weise, setzt nicht nur die Form, sondern zuweilen auch ihren Umraum in Szene. So fertigt er in der 550 x 320 x 70 cm großen Arbeit mit dem programmatischen Titel „The Beginning of Shaping“ (2017) eine Negativ-Form. Die Form rückt hier durch den Umstand in den Fokus, dass der sie umgebende Raum sich als fassbarer Körper in Holz manifestiert. Diesen Umraum wiederum lässt Jay Gard sich um die eigene Achse drehen. Immer wieder gelingt es ihm mit derartigen Coups auf nonchalante Weise zu überraschen, Perspektiven auszuhebeln und neue zu eröffnen. Der ewig schwelenden Debatte um die Beziehung der zeitgenössischen Kunst zur Form fügt er in diesem Zuge ebenso ein zeitgenössisches Kapitel hinzu, wie er die Bedeutung der Formentwicklung für die menschliche Kultur mit gewitzter Präzision in Szene setzt.

Anne Simone Krüger