Unikat X - Tobias Hantmann
Tiere als Kunsthistoriker
Als er über das Wesen von Bildern und unseren Umgang mit ihnen nachdachte, berief sich der amerikanische Kunsthistoriker Arthur C. Danto auf wissenschaftliche Versuchsreihen zur Wahrnehmungsleistung von Tieren. Besonders bemerkenswert ist ein von Danto zitiertes Experiment, in dem die Fähigkeit von Tauben zum „Doppelblick“ nachgewiesen wurde. Die Tiere konnten sowohl kurz hintereinander aufgenommene Fotos ein und desselben Ortes einer gemeinsamen Kategorie von Bildern zuordnen, als auch winzige Unterschiede – wie das veränderte Licht- und Schattenspiel – innerhalb der Sequenz erkennen. Tauben unterscheiden also zwischen der Ober äche eines Bil- des und dem Bild darin und besitzen somit das, was Danto unter dem Begriff der Bildkompetenz zusammenfasst.
Ob die Stute Finya und ihre Tochter Dakota wohl Ähnliches im Blick hatten, als sie auf Tobias Hantmanns Lying bull sustaining support (2013) trafen und sowohl des fremden Dings in ihrem vertrauten Umfeld gewahr wurden als auch der zarten hellen und dunklen Abstufungen auf seiner Oberfläche? Hantmann hat das Bild mit dem Bullenmotiv bei den Pferden aufgehängt und dies in Form einer Postkarte dokumentiert. Sicherlich konnten sie es nicht als Kunstwerk identi zieren. Denn künstlerische Bedeutungen, so folgerte Danto aus den Tierstudien, setzen eine Empfänglichkeit gegenüber Merkmalen von Bildern voraus, auf die Tiere nicht reagieren können. Etwas als Kunst zu erkennen, das spielt sich gleichsam in den Randzonen des natürlichen Sehens ab, dort, wo sich der Ein uss von Kultur und Geschichte und antrainiertem Wissen geltend macht. Trotzdem bleibt der Eindruck, als hätten unsere Schwestern und Brüder aus dem Reich der Tiere das Zeug, um wie Kunsthistoriker, insbesondere auf dem Gebiet der Moderne, auf Bilder einzugehen. Denn gerade das von den Tauben evolutionär verinnerlichte zweipolige Wesen von Bildern, zugleich als Ding und als Vehikel einer Information zu existieren, befeuert seit dem 19. Jahrhundert anhaltend den Malereidiskurs und dessen kunstwissenschaftliche Rezeption. Auch Tobias Hantmann widmet sich diesem Thema.
Eine zentrale Rolle in seinem Werk spielt seit einigen Jahren das Material Velours, das mit Hilfe von Pinseln und verschiedenen Kämmwerkzeugen bearbeitet wird. Mit diesen ‚malerischen‘ Hilfsmitteln formt der Künstler Schatten und Lichter in den textilen Träger und formuliert mal harte Kanten mal weichere Übergänge. Die Formbarkeit des Flors ist uns bekannt aus den zahlreichen Situationen, in denen wir selbst auf Teppichen malten: mit dem Fuß, dem Staubsauger oder als Kinder im spielerischen Ertasten unserer Umgebung mitunter auch mit dem Finger. Wir wissen um die Fragilität jeder Darstellung auf diesem Material, denn jede unachtsame Bewegung gefährdet das Bild. So sind Teppiche auch nicht vergleichbar mit anderen wiederholt beschreibbaren Oberflächen, die – der antiken Vorstellung des Palimpsests folgend – zwar unendlich häufig beschrieben werden können, jedoch unter der obersten Schicht die zeitlich früheren Verläufe als Spuren aufblitzen lassen; quasi als in die Fläche gebrannte, historische Zeit.
Hantmanns Veloursarbeiten hingegen vermitteln eine andere Vorstellung von Zeitlichkeit. Wir scheinen einen in die Zeit gedehnten Moment zu erleben, der beständig Gefahr läuft, in der Kluft zwischen Kett- und Schussfäden in visuelles Rauschen zu zerfallen – vergleichbar einem Bild im Sand, das vom nächsten Wind wieder verweht werden kann. Wie ein Sandbild ist das in den Teppich gemalte Bild von einer besonderen Leichtigkeit geprägt, die jedoch nicht mit Uneindeutigkeit oder Oberflächlichkeit zu verwechseln ist. Vielmehr ist die Leichtigkeit, wie der Schriftsteller Italo Calvino in einer seiner, die Literatur gleichsam aus ihren Materialsuggestionen heraus interpretierenden so genannten „Amerikanischen Vorlesungen“ herausstellt, eine Qualität von Kunst. Sie verhilft den Dingen aus normierten Bedeutungen heraus, um eine andere Logik, ein anderes Denken zu etablieren. Die Leichtigkeit diene der „Zerstäubung der Realität“ und biete die Möglichkeit, die „essentielle Gleichwertigkeit alles Seienden“ gegen „jede Hierarchie von Mächten und Werten“ abzugrenzen.
Aber welcher Art ist diese Motivwelt, die beständig zwischen Sein oder Nicht-Sein schwankt? Häufig nutzt der Künstler selbst fotografierte Vorlagen von Weihnachtskrippen, Objektarrangements oder Oberflächenstrukturen. Übertragen in das monochrome Hell-Dunkel des Teppichs erscheinen manche Details diffus und das Plastische der Darstellung wird durch die Beschaffenheit der Veloursfasern eingedämmt. Dennoch geht in dieser Transformation nichts von der Magie der bildlichen Repräsentation verloren; im Gegenteil weiden wir uns an der „staunenerregenden Realität“ (Gottfried Böhm) des Ikonischen auf diesem besonderen stofflichen Grund. Hantmann ist kein aktiv Suchender sondern vielmehr ein der Welt aufgeschlossener Finder von Motiven. Dieser Umstand ist wichtig, weil er das, was das Bild zeigt, in ein gleichberechtigtes Verhältnis zu der Art und Weise des Zeigens setzt. Seine Bilder verschleiern die Grenzen der eigenen Bildlichkeit nicht, sondern machen diese Grenzen zum eigentlichen Thema. Hin und wieder potenzieren farblich aufreizende Rahmen den materiellen Charakter der Bilder, die – inspiriert durch den flauschigen Flor – einladen, sie gedanklich zu bewohnen. Die Leichtigkeit wird also eingeholt vom materiellen Gewicht der Dinge.
Hantmanns Arbeiten richten sich nicht an ein wiedererkennendes Sehen, an keines, das sich „gegenüber der Realität aufbaut, sondern sein Tun in ihr vollzieht, das Auge gleichsam deren Spielräume durchquert, von ihnen umfasst wird“ und selbst zu schöpferischer Höchstleistung angespornt wird. In Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty stellt Gottfried Böhm das Sehen hier als rein kognitives, von der leiblichen Wahrnehmung entkoppeltes Verfahren in Frage und fordert stattdessen ein handelndes Sehen, das in einem Körper verwurzelt ist und sich erst sukzessive im Erleben seine Umwelt erschließt. Dieser Vorstellung der Teilhabe am Kunstwerk als einem mitweltlichen Gegenüber spielen die Arbeiten von Tobias Hantmann auf schönste Weise zu.
Dass wir nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Leib wahrnehmen, ist für die Werkreihe Sets wichtig. Die Sets – zu kleinen Gruppen arrangierte, auf dem Kopf stehende Kochtöpfe, die mittels nicht sichtbarer Träger über dem Boden schweben – entstehen in einem aufwändigen Prozess, in dem jeder Topfboden geschliffen und grundiert wird. Anschließend werden mehrere Malschichten aufgetragen. Die bemalten Flächen zeigen schließlich das Abbild des metallenen Bodens mit dessen charakteristischer, um das Zentrum kreisender Spiegelung. Als statisches Bild fixiert, verändert sich diese Spiegelung bei unterschiedlichem Lichteinfall nicht. Sie entpuppt sich mithin als perfekt ausgeführte Imitation, der man nur auf die Schliche kommt, wenn man das Ding umrundet. Flach, aber zugleich der Welt der Objekte angehörend, schlüpfen die Sets behände unter den Bezeichnungen hindurch, mit denen man sie dingfest machen möchte. Hantmann vermischt hier die Kategorien Malerei und Skulptur, Bild und Objekt, Fläche und Raum, Illusion und Tatsache.
In der aktuellen Unikat-Reihe mit dem Titel Mere light reflecting segment (2015) spitzt sich dieser Eindruck zu. Wie Tortenstücke aus dem Topf herausgeschnitten, sind die metallenen Segmente mit dünnen Stangen an der Wand befestigt. Nach den übermalten Topfböden der Sets isoliert Hantmann hier die das Licht reflektierende, gleißend gemalte Stelle so, als ob er das Ding hinter seinem (Er)Scheinen verschwinden lassen wollte. Hantmann führt uns jedoch keine sich selbst vergessen machende malerische Illusion vor, sondern ein bemaltes Stück Metall. Das Erscheinen bleibt somit letztlich an einen materiellen Träger gebunden. Bei der Betrachtung von Hantmanns nicht nur visuell vielschichtigen Werken wünscht man sich die okulare Unschuld unserer Taubenfreundinnen zurück, die ohne wortreiche Umschreibungen der Polyvalenz des Bildlichen mit einer stabilen Systematik begegnen. Die Sprache jedenfalls zeigt sich im Angesicht der Werke von Tobias Hantmann als unpräzise und lückenhaft; ihr entzieht sich beständig ein Teil des semantischen Kontextes, den sie nicht kontrollieren kann. Sie ist, um mit Italo Calvino zu schließen, nicht mehr als eine „unentwegte Verfolgung der Dinge“ und eine „ständige Anpassung an ihre unendliche Vielfalt“.
Julia Höner