Unikat IV - Michael Wesely
Stillleben unserer Zeit
Auf Michael Weselys Photographien scheint alles zu verschwinden. Nur feste Gebäude und andere Dinge, die unverändert an ihrem Platz stehen, sind deutlich zu sehen. Anderes tritt nur schemenhaft in Erscheinung, wie transparente Schleier oder Spiegelungen in der Luft. Die langsame Bewegung der Sonne hat parallele Streifen am Himmel hinterlassen. Menschen sind, wenn überhaupt, nur unscharf zu erkennen. Alles, was sich schnell bewegt, ist wie vom Erdboden getilgt.
Mit einer eigens entwickelten Kameratechnik macht Michael Wesely Langzeitaufnahmen, deren Belichtungszeit wenige Minuten betragen, aber auch mehr als zwei Jahre dauern kann. So „verfolgen“ seine Bilder gesamte Bauphasen von Gebäuden, so den Neubau des Museum of Modern Art in New York oder de Daimler Chrysler-Gebäude am Postdamer Platz. Weit kürzer, inklusive Halbzeitpause 105 Minuten, dauert ein Fußballspiel, und dies ist die Belichtungszeit der Photos, die Wesely in mehreren Stadien gemacht hat. Das Match wird gleichsam zum „Geisterspiel“, denn man erkennt zwar schemenhaft die Zuschauermassen, aber von den Aktionen auf dem Spielfeld ist nichts mehr zu sehen.
Wesely erinnert uns an die Frühzeit der Photographie, als schnelle Schnappschüsse noch nicht möglich waren und Menschen für Porträtaufnahmen wie auf einem Folterstuhl festgeschnallt wurden, weil bereits kleinste Bewegungen auf dem Bild zu Unschärfen führten. In den meisten praktischen Zusammenhängen, wo Photographien seit dem 19. Jahrhundert systematisch zur Anwendung kommen, sind Verwischungen jedoch störend und unerwünscht. Wissenschaftler oder Kriminologen brauchen möglichst klare, deutliche Abbildungen, um sie für Fahndungs- und Forschungszwecke zu verwerten. Absichtliche Unschärfen waren schon um 1900 den Künstlern vorbehalten, die damit auch Effekte der Malerei photographisch imitierten.
So eindrucksvoll die durch die langen Belichtungen entstandenen Effekte bei Michael Wesely auch sind: Es handelt sich keineswegs um einen bloß ästhetischen Mehrwert. Vielmehr regen seine Bilder zu vielschichtigen Reflexionen an.
Stellen wir uns beispielsweise vor, die Photographien, die uns tagtäglich massenhaft umgeben, wären nicht nur ausnahmsweise Langzeitbelichtungen.
So könnte es sein, wenn bewegte Bilder nicht erfunden worden wären. Dann wäre vielleicht die Langzeitphotographie das weltweit etablierte Medium geworden, um Zeitabläufe sichtbar zu machen. Sie macht ja letztlich Ähnliches wie der filmische Zeitraffer. Sie verkürzt einen Ablauf, allerdings so stark, dass er in einem statischen Bild zusammengefasst ist. Die Überlagerungen von zeitlich hintereinander liegenden Ereignissen an einem Ort verräumlicht gleichsam die Zeit. Es sind zeitliche „Phantombilder“, so wie die Überlagerung mehrerer Gesichter zu einem, wie bei Fahndungsphotos üblich. Nicht ein zu identifizierendes Individuum, sondern „das“ Gesicht einer ganzen Schulklasse ließ Michael Wesely in einem Phantom-„Gruppenporträt“ in Erscheinung treten.
Die Stillstellung des Zeitablaufs im Bild hat Wesely fast natürlicherweiser auch in das Genre des Stilllebens geführt. Blumen in einer Vase sind so lange abgelichtet, bis sie verblühen, die Blätter herabfallen. Verwelkende Blumen oder Früchte sind schon auf den Gemälden der alten Niederländer deutliche Vanitasmotive, die wie ein auf dem Tisch liegender Totenschädel an die Vergänglichkeit des Daseins gemahnen soll- Auf einem Stilllebenbild scheint die Zeit innezuhalten und ihr unaufhaltsames Voranschreiten tritt dadurch umso bewusster hervor.
So gesehen, sind alle Langzeitbelichtungen Michael Wesely letztlich so etwas wie Stillleben unserer Zeit. Und es sind Bilder der Erinnerung, vielleicht sogar Veranschaulichungen des kulturellen Gedächtnisses. Alles, was sich während der Blichtungszeit vor dem Auge der Kamera befand, hat sich, je nachdem wie lange es vorhanden war, stärker oder schwächer in die Fläche des Photopapiers eingeschrieben wie die unauslöschlichen Spuren im Wachs von Freuds berühmtem Wunderblock.
So sind die Langzeitphotos eines der besten Beispiele dafür, dass das „optisch“ Unbewusste an die Stelle des psychischen tritt, was Walter Benjamin bereits in den 1930er Jahren beschrieb. Das „Bewusste“, Sichtbare, klar Erkennbare und das „Unbewusste“, Unsichtbare, dem Blick Entzogene sind untrennbar miteinander verbunden. Und so laden Michael Weselys Bilder zu ähnlichen Meditationen ein wie einst die Ruinen, bei denen der sichtbare Rest unmittelbar auf das nicht mehr Vorhandene verweist. Diderot schrieb 1767 nieder: „Alles wird zunichte, alles verfällt, alles vergeht. Nur die Welt bleibt bestehen, nur die Zeit dauert fort.“
Ludwig Seyfarth