Unikat XV - Jim Avignon

Zwischen Kritik und bemerkenswerter Bejahungskraft:
Die Wucht der Botschaft bei Jim Avignon

Von Jana M. Noritsch

Immer ist er vor Ort gewesen, kennt seine Sujets, den Rausch der Stadt, verschiedene Identitäten und verschwiegene Wahrheiten. Seine Themen gehen uns alle etwas an, wir sind Teil davon. Denn der Maler dokumentiert nicht nur die Zeitzeichen, er hinterfragt, reflektiert und kommentiert. Humanistisch, nie dogmatisch.

Während er als Installations- und Interventionskünstler mächtig Aufwand betreibt, vermittelt uns der Maler Jim Avignon seine Wahrnehmung von der Welt mit vermeintlich wenigen Mitteln. Wahrscheinlich ist er wegen seiner vordergründig farbenfrohen Palette und seines sicheren Strichs schnell in der Comic-Ecke gelandet. Die dafür typischen Outlines sind zu einem seiner Markenzeichen geworden. Bezeichnen wir sie jedoch nicht als Outlines, sondern als Konturen, nähern wir uns genauso gut den suburbanen Landschaften von Valerio Adami. Oder können einige Arbeiten vergleichen mit Werken von Patrick Caulfield oder auch dem zwischen Pop-Art und Surrealismus changierenden Eduardo Paolozzi – sowie Andy Warhol. Doch Jim Avignon ist im Jetzt, und widmet sich der ‚überreif‘ gewordenen Pop-Art knapp in „Brown Bananas“.

In seinem malerischen Werk sind neben wiederkehrenden Themen und Sujets verschiedene Arbeitsweisen und Stile zu finden. Mit Aquarellfarben arbeitet er komplexe Bildwerke aus, wohingegen den plakatähnlichen Acrylbildern oft klare Symboliken reichen. Zu diesen perspektivisch zweidimensionalen Bildern zählen typische Characters, wie die Erde, Häuser, Köpfe als Kartons, DJs, Surfer, Skelette, Fernseher und Radios, Laptops und Smartphones, Alkoholika, Bäume, Blumen oder Flüsse und Tiere. Wir erfassen die Bilder sofort – wie auch Werbeplakate für alle funktionieren müssen (depersonalisiert). Wir haben gelernt, Piktogramme zu lesen, auf den ersten Blick erkennen wir die Symboliken.
Einen Wimpernschlag später, erst mit dem zweiten Blick, identifizieren wir Jim Avignons Tiefsinnigkeit und aktuelle Gesellschaftskritik. Seine komplexe Botschaft steckt in wenigen Strichen: Jim Avignon ist Profi, was die Reflexionsfähigkeit von Kunst angeht – und ebenso ihre Medialität.

Die Erde kann kein Blut mehr sehen, Überwachung springt aus Laptops, ein auf sein Smartphone konzentrierter Pinguin zieht ein inhaltsleeres „Attachment“ hinter sich her. Dann eine riesenformatige Barszene, Endzeitstimmung, „Last Orders“, die Leute im Delirium, die Erde „stets zu Ihren Diensten“ serviert die letzten Reste an Wasser, Weizen und Öl. Draußen brennt ein Baum. Die Gäste interessiert das gar nicht, sie sind zu sehr mit sich selbst und ihrem stereotypen Rollenspiel beschäftigt. Selbst die Zeit startet in ihrem U(h)rsprung schon mit einer ersten Hürde in den Bildern von Jim Avignon. Bei dem Maler mit so farbintensiv-erzählerischen Kompositionen steht der Mensch und seine Themen beständig im Vordergrund, eingebettet in fliehende Häuserschluchten oder untergehende Stadt- und Weltansichten.

Tiefe und Komposition hingegen, ja, einen kubistischen und teils konstruktivistischen Szenenaufbau finden wir in Avignons Großformaten. Expressionistisch gestaltete Stadtlandschaften und Architekturen rufen uns „Die Geschwindigkeit der Straße“ (1918) von George Grosz sowie dessen „Deutschland, ein Wintermärchen“ (1918) ins Gedächtnis, Arbeiten von Feininger oder auch die Großstadtbilder von Ernst Ludwig Kirchner. 
Die Protagonisten der Stadt, in den Bars und Tanzlustbarkeiten – wie in „Out on the Weekend“ oder „Barscene“ – scheinen sich stilistisch zwischen den Goldenen Zwanzigern, Philip Guston, manchmal Dora Maar und heutigen Stereotypen zu bewegen, jedoch hat Jim Avignon seine eigenen Charaktere erschaffen.
Daneben konfrontiert er uns mit Schlitzäugigkeit, Zweiäugigkeit und Dreiäugigkeit wie in „Night on Earth“ und „Under the boardwork“. Sind wir mit unserer Aufmerksamkeit nicht immer bei nur einer Sache, sondern haben in unserem Tun direkt noch ein, zwei andere Dinge im Sinn oder Ziele im Blick?

Beim Rummel um das Goldene Kalb auf dem Kunstmarkt mag er nicht mitspielen – Jim Avignon ist vor allem wichtig, dass 95 Prozent seiner Bilder bei Besitzer/innen sind, denen die Arbeiten wirklich etwas bedeuten, und dass sie sich dafür nicht verschulden mussten. (Da alle sie behalten wollen, finden wir kaum Werke von ihm in Auktionen.) Liebhaber/innen seiner Bilder gibt es nun schon seit drei Generationen. Jim Avignons Arbeiten gehören definitiv in die Räume des Lebens, sie haben eine Identität, einen Spirit und eine Sprache. Natürlich haben sie auch in White-Cube-Galerien gehangen, aber das ist nicht primär das Ziel.

Der Mann, der mit souveräner Bescheidenheit und Heiterkeit durch sein privates Leben geht und schon wirklich viel erlebt hat, macht uns aufmerksam und fordert sanft Wertebesinnung. Wenn wir uns fragen, was wirklich wertvoll ist, begründen sich die Antworten sicher nicht im Konsum von Materiellem. Wer also Ja zum Leben sagt, meint die Liebe, das Lachen, die Menschen und die Natur. Wenn wir davon zu wenig in unserem Leben spüren, sollten wir einfach dringend unseren Blick vom Smartphone abwenden und umdenken. Und alle, die diese Essentials auch für wichtig halten, sind eingeladen, ihm zu folgen.

Jim Avignon gehört zur Generation „Techno“ – temporeich ist seine Reaktionsfähigkeit, die Geschehnisse in der Welt zu kommentieren. Er kann schnell in Aktion kommen, so wie er während des Lockdowns das Social-Media-Malerei-Event „Dienstagsmaler“ initiierte, um seinen Fans näher sein zu können. Als scharfsinniger Beobachter der sich super-schnell entwickelnden Gesellschaft hatte Jim Avignon 1991 die Ausstellung „Highspeedworld“ im Berliner Dead Chicken Art Space realisiert. Das sorgte in den Neunzigern für Sensationen, wobei „Deadline“ und „asap“ („as soon as possible“) heutzutage Buzzwords für Druckmacher-Attitüden sind, die vor lauter Optimierungsdrang bei gleichzeitigem Zeitmangel jegliche Kreativität killen. Wir sollten Acht geben, dass „Business as usual“ nicht zur privaten Angelegenheit wird. 

Jim Avignons Kombination von Farbigkeit, Strich, Charakteren und seinen Sujets gekoppelt mit malerischer Spontaneität gehören zum Neoexpressionismus mehr als zu etwas Anderem. Betrachten wir seine Malmittel und Haltung wird noch ein weiterer Punkt relevant: Er malt und zeichnet auf allem: Papier, Häusern [Tegel Berlin, Bangkok, N.Y.C., „Modigliani“ in Italien, Urban Nation Berlin] und Mauern [East Side Gallery], vornehmlich verwendet er Materialien wie Karton und Pappe wieder. Das ist nicht nur nachhaltig und zugleich wenig kostenintensiv, sondern hat die positive Eigenschaft, schnell zu trocknen. Spannend wird es auch, wenn die bereits von anderen schon einmal verwendeten Fundstücke architektonische Grundrisszeichnungen vom Empire State Building oder dem Metropolitan Museum sind [„Hug the Enemy“, „Cloudsurfing“].
Einen Jim Avignon kann man übrigens oft daran erkennen, dass der Titel direkt auf dem Bild steht, wie es einst Aubrey Beardsley bei „Isolde“ (1895) oder „The Kiss of Judas“ (1893) tat.
Von der Einstellung her gehört er zur FLUXUS-Bewegung und zwinkert den Situationisten zu: einfache Materialien, Gebasteltes, neue Material-Entwicklungen für seine Ausstellungen wie Maschinen am Strom oder kinetische Wandobjekte, Konzerte seiner Ein-Mann-Heimelektronikband Neoangin, ungerahmte Bilder in Galerien, nur mit Klebeband befestigt, Live-Aktionen, …spontan-improvisiert oder detailgetreu vorbereitet, von der Flugblätter-Mentalität über eine designte Swatch oder British-Airways-Flieger (1997-1999) ist alles dabei.
Das Wichtigste ist ihm die Community, das Zusammenkommen, Umherziehen, gemeinsam etwas bewegen. Er liebt es, über die Kunst die Menschen zusammenzubringen: Von den wahnsinnig vielen Aktionen gibt es wunderbare Dokumente in Form von Büchern, Filmen, Videos – und natürlich die Werke selbst. Jim Avignon bedeutet Bewegung, Veränderung und Ideenreichtum: Kreativität lässt sich nicht aufhalten. Jim wirft sich gerne dem Leben entgegen und ruft: „Zeig mir, was es noch gibt!“ Er liefert uns nicht per sé negierende Diagnosen, sondern macht den Twist mit der unerwarteten Wendung auf den zweiten Blick. Er löst klassische Genres auf, lässt Grenzen verschwimmen – und verschwinden. Und zwar lebensnah. Mit Rückgrat.